Am 7. April 1878 versammeln sich im Gasthaus U Kaštanu(Zur Kastanie) im Prager Vorort Břevnov rund ein Dutzend Männer, um die Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei zu gründen. Die Teilnehmer werden im Anschluss daran zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt.
Der Břevnover Kongress 1878 fand in tiefer Illegalität statt. Er war als eine Kneipengesellschaft getarnt. Jiri Malinsky, Historiker
Als erster dezidiert politischer Verein konstituiert sich bereits 1868 der „Tschechoslawische Arbeiterverein“ (Českoslovanský dělnický spolek), der am 16. August beim Zobel in Fünfhaus eine Massenversammlung abhält. 2.000 tschechische Arbeiter stimmen dabei über eine Resolution mit sozialpolitischen Forderungen ab.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer massiven Einwanderung von Arbeitern aus Böhmen und Mähren, aber auch von böhmischen Köchinnen, Ammen und Dienstmädchen.
1872 entsteht auf Initiative des Arbeitervereins der Schulverein Komensky; bald folgen die Arbeiterbildungsvereine „Tyl“ in Simmering und „Dělnická jednota“ in Favoriten. Auch beim ersten Versuch der Gründung einer Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs am „geheimen Parteitag“ in Neudörfl im April 1874 sind zehn tschechische Delegierte anwesend.
1876 beschließen Vertreter tschechoslowakischer Arbeiterorganisationen aus Prag, Brünn, Aussig und Wien bei einem konspirativen Treffen im Gasthaus „Cap“ in Prag, eine eigenständige Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei zu gründen. Durch Verrat erfährt die Polizei von diesem Plan, es kommt zu Verhaftungen, der Tschechoslowakische Arbeiterverein in Wien wird aufgelöst. Doch die tschechischen Sozialdemokraten bleiben hartnäckig…
1881 übersiedelt die Führung der tschechischen Sozialdemokraten von Prag in die Reichshauptstadt Wien; noch im selben Jahr werden zahlreiche Funktionäre, darunter der gesamte Parteivorstand, verhaftet.
Als 1884 für Wien und Teile Niederösterreichs der Ausnahmezustand verhängt wird, folgt binnen weniger Tage die Auflösung aller tschechischen Vereine mit Ausnahme des Simmeringer Vereins „Tyl“. Auch die Arbeiter-Blätter („Dělnické listy“), das in Wien hergestellte Presseorgan der tschechoslowakischen Sozialdemokraten, werden verboten.
Nach der Lockerung des Ausnahmezustandes kann mit dem Wiederaufbau politischer Strukturen begonnen werden. 1894 erkennt der vierte Kongress der österreichischen Sozialdemokratie die organisatorische Selbständigkeit der tschechoslowakischen Schwesterpartei an.
Im Jahr 1900 gibt es bereits 37 tschechoslowakische sozialdemokratische Vereine in Wien; die Arbeiter-Blätter erscheinen als Tageszeitung. 1902 erwerben die Tschechen ein Haus am Margaretenplatz 7 und richten eine eigene Druckerei ein. Parallel zu den 1903 in Prag gegründeten tschechischen Arbeiterturnvereinen „Dělnické tělocvičné jednoty“ (DTJ) entstehen bald ähnliche Organisationen in nahezu allen Wiener Bezirken.
Wir können sagen, dass vor dem Ersten Weltkrieg zwei Strömungen um die Mehrheit kämpften: die austromarxistische Strömung, die ihre Basis in der Habsburger Monarchie sah. Und die nationale Richtung. [...] Ziel des national orientierten Parteiflügels war [...] die Entstehung eines eigenen tschechischen Staates. Im Sommer 1918 gab die Geschichte letzteren Recht.Jiri Malinsky
Mit der Einführung des freien und gleichen Wahlrechts für Männer geht 1907 eine langjährige Forderung der Sozialdemokratie in Erfüllung. Damit feiern auch die tschechischen Sozialdemokraten ihren ersten großen politischen Erfolg. Mit 24 Abgeordneten stellen sie ein Viertel der tschechischen Abgeordneten im Wiener Reichstag und sind somit die stärkste tschechische Fraktion. Vier Jahre später, 1911, wiederholen sie ihren Wahlerfolg und ziehen mit 26 Abgeordneten ins Parlament ein.
Die folgenden Jahre sind von heftigen Auseinandersetzungen um die Frage einer einheitlich österreichischen oder selbständig tschechoslowakischen Arbeiterbewegung geprägt. Es kommt zu Tätlichkeiten, zur Störung von Versammlungen und zu gegenseitigen Denunziationen bei der Polizei. Der Konflikt endet erst mit der Gründung des tschechoslowakischen Staates im Spätherbst des Jahres 1918.
Am 25. Januar 1918 kommt es in Wien zur Gründung des Vereins Tschechisches Herz („České srdce“), der v.a. die Not der tschechischen Kinder und Kriegswitwen lindern soll. 1922 erwirbt der Verein ein Areal in Favoriten und errichtet darauf ein Sportzentrum, den Tschechisches-Herz-Platz. In den 1970er Jahren wird der Sportplatz an die Gemeinde Wien verkauft werden, die ihn zum heutigen Horr-Stadion ausbauen lässt.
Nach dem Ersten Weltkrieg ringen sich mehrere tschechoslowakische Gruppen zu einer gemeinsamen Kandidatur bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 durch und erreichen mit insgesamt 67.396 Stimmen ein Mandat, das der Chefredakteur der Arbeiter-Blätter, Frantisek Dvorak, erhält. Im niederösterreichischen Landtag erringen die Tschechen drei Sitze, im Wiener Gemeinderat acht und in den Bezirksvertretungen insgesamt 41 Sitze.
Bei einem Kongress im Hotel Post im März 1921 wird schließlich die Trennung von der Parteizentrale in Prag vollzogen: Die neue Tschechoslowakische Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs wird zu einer selbständigen österreichischen Partei. 1923 zählt die Partei 92 Lokalorganisationen in Wien und weitere 17 außerhalb Wiens mit insgesamt etwa 15.000 Mitgliedern. Sie kandidiert zunächst selbständig für den Gemeinderat, verzichtet jedoch ab 1927 auf die Nominierung eigener Kandidaten; der sozialdemokratischen Gemeinderatsfraktion gehören nun ständig zwei Vertreter der Wiener Tschechen und Slowaken an.
Das Verbot sämtlicher sozialdemokratischer Organisationen und Zeitungen im Jahr 1934 trifft auch die tschechoslowakischen; am Margaretenplatz wird nun statt der Wiener Arbeiter-Blätter die unter scharfer Kontrolle stehende tschechische Wiener Zeitung („Vídeňské noviny“) gedruckt.
Die Nationalsozialisten beendeten schließlich alle Versuche, die tschechoslowakische Minderheit in Wien zu organisieren. 1942 wird auch der Schulverein Komensky aufgelöst, sein Vermögen beschlagnahmt. Viele österreichische Tschechen und Slowaken müssen in das „Protektorat Böhmen und Mähren“ bzw. in den slowakischen Satellitenstaat übersiedeln.
Die Wiener Tschechen und Slowaken haben einen wesentlichen Anteil am antifaschistischen Widerstand und sind deshalb besonders brutalen Verfolgungen ausgesetzt. So werden allein am 6. November 1941 zwanzig tschechische Antifaschisten aus Wien im KZ-Mauthausen im Zuge einer sogenannten „Sonderbehandlung“ erschossen. 1943 wird auch Alois Houdek, der in der Druckerei am Margaretenplatz illegale Flugschriften hergestellt hatte und 1941 verhaftet worden war, im Landesgericht hingerichtet. An ihn und zahlreiche weitere NS-Opfer der tschechischen und slowakischen Minderheit erinnert eine Gedenktafel in der Leibnitzgasse 10 in Favoriten.
Nach der Befreiung setzt, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, eine intensive Werbung der tschechoslowakischen Regierung um die verbliebenen Wiener Tschechen und Slowaken ein. Mehr als 20.000 Wiener Tschechen folgen diesem Ruf. Nur eine kleine Gruppe um den Sozialisten Josef Jirava – der von 1945 bis 1959 dem Wiener Gemeinderat angehört – wehrt sich gegen diese Entwicklung und bekennt sich zur Existenz der tschechischen und slowakischen Volksgruppen in Wien.
Die 1946 wiederbegründete Tschechoslowakische Sozialistische Partei Österreichs bewährt sich besonders nach der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei im Juni 1948 und der Zwangsvereinigung der tschechischen Sozialdemokraten mit der Kommunistischen Partei als Interessenvertretung der Minderheit in Wien. Die Wiener Tschechoslowaken nehmen auch lebhaften Anteil, als im Jahr 1968 im Rahmen des Prager Frühlings das Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ unternommen und niedergeschlagen wird.
1972 verkauft die Tschechoslowakische Sozialistische Partei Österreichs das Haus am Margaretenplatz und behält nur den historischen Sitzungssaal und einige Büroräumlichkeiten, die von verschiedenen tschechischen Vereinen genutzt werden.
Literatur
Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen. Integration und Assimilation einer Minderheit im 20. Jahrhundert, 1980; Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, 1972.