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Aktuelle Seite: Nach dem Sinn des Lebens fragen
0068 | 28. MAI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Nach dem Sinn des Lebens fragen

Am 28. Mai 1937 stirbt der Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler während einer Vortragsreise im schottischen Aberdeen.

Der weder mit dem Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler noch mit dem austromarxistischen Theoretiker Max Adler verwandte Alfred Adler kommt am 7. Februar 1870 als Sohn eines Getreide­händlers in Wien zur Welt. Während des Medizinstudiums an der Universität Wien lernt er die russische Studentin Raissa Timofejewna Epstein kennen. Adler promoviert 1895, das Paar heiratet 1897 in Moskau.

Als junger Arzt beschäftigt sich Adler intensiv mit der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse und schließt sich dessen „Mittwochsgesellschaft“ an. In diesem ersten psychoanalytischen Arbeitskreis, der sich regelmäßig Mittwoch abends im Warte­zimmer der Freudschen Praxis in der Berggasse 19 trifft, werden bei Kaffee, Kuchen und Rauchwaren Krankengeschichten und psychoanalytische Arbeiten, aber auch aktuelle Fragen der Kultur und Gesellschaft besprochen.

Abkehr von Freud

Als Arzt ist Adler in seiner Praxis in der Leopoldstadt tagtäglich mit den gesundheitlichen Auswirkungen der sozialen Verhältnisse auf das Leben seiner Patienten konfrontiert. Früh erkennt er die Notwendigkeit einer sozialmedizinischen Betreuung der Bevölkerung.

1907 veröffentlicht er seine „Studie über Minderwertigkeit von Organen“, die darauf abzielt, alle Erscheinungender Neurosen und Psychoneurosen [...] auf Organminderwertigkeit, den Grad und die Art der nicht völlig gelungenen zentralen Kompensation und auf eintretende Kompensationsstörungen zurückzuführen.

Für Adler ist der Mensch in erster Linie Teil einer Gesellschaft, sein Verhalten deshalb ganz wesentlich von dieser geprägt. Die Ursache der seelischen Probleme Erwachsener sollten laut Adler deshalb nicht in Störungen der kindlichen Sexualität gesucht werden, sondern in den Minderwertigkeitskomplexen oder dem übersteigerten Geltungstrieb infolge einer Überkompensation.

Im Roten Wien

Die Individualpsychologie erblickt ihre Aufgabe darin, daß ihre Lehren […] über die Grenze der Krankenbehandlung und der individuellen Erziehung hinaustreten, daß sie Prophylaxe werden und Weltanschauung.Die Individualpsychologie…, 1926.

1911 kommt es zum Bruch mit Freud. Alfred Adler gründet seine eigene Gesellschaft, den bis heute bestehenden „Verein für Individualpsychologie“. Durch sein gesellschaftliches Engagement ist Adler regelmäßig als Vortragender an Volkshochschulen tätig. Seine Theorien üben großen Einfluss auf die Schulreform Otto Glöckels, auf die Erziehungsarbeit der Kinder­freunde und auf die städtische Kinder- und Jugendbetreuung im Roten Wien aus. Insgesamt werden in Wien rund 30 Erziehungs­beratungsstellen nach seinen Vorgaben eingerichtet.

Diese „Elternschulung“ wird vor allem als „Neuroseprophylaxe“ verstanden. Daneben entstehen auch eigene Kindergärten für Arbeiterkinder. 1920 wird Adler Direktor der ersten Klinik für Kinderpsychologie in Wien, 1924 erhält er eine Dozentur am Pädagogischen Institut der Stadt Wien.

Eine Kundgebung des geistigen Wien

Vier Tage vor dem Superwahl­sonntag am 24. April 1927 – zugleich mit der Nationalratswahl findet in Wien die Landtags- und Gemeinderatswahl statt – erscheint am Titelblatt der Arbeiter-Zeitung ein Bekenntnis der geistigen Elite des Landes zum Reformwerk des Roten Wien: Diese große und fruchtbare Leistung, welche die Bedürftigen leiblich betreut, die Jugend nach den bestem Prinzipien erzieht und entwickelt, den Strom der Kultur in die Tiefe leitet, diese Taten wollen gerade wir anerkennen, dieses überpolitische Werk möchten gerade wir erhalten und gefördert wissen. Unterzeichner dieser Wahlempfehlung sind u.a. Sigmund Freud, Fritz Grünbaum, Alma Mahler, Robert Musil und Alfred Adler.

1933 erscheint sein letztes großes Werk, „Der Sinn des Lebens“. Adler versteht darunter den Sinn, den ein Mensch in seinem Leben sucht und findet, und der auf das engste zusammenhängt mit der „Meinung“, die er von sich und von der Welt, und damit vom Leben hat. Zweitens aber, so Adler, sei unter dem „Sinn des Lebens“ der „wahre“, außerhalb unserer Erfahrung liegende Sinn zu verstehen. Dieser zeige sich darin, dass derjenige, der sich allzu weit von ihm entfernt, je nachdem, neurotisch, psychotisch, süchtig oder kriminell werde. Sinn, so Adler, habe ein menschliches Leben dann, wenn es vom Ziele des Wohles der gesamten Menschheit geleitet ist.

Der mittlerweile auch international anerkannte Alfred Adler folgt zu Beginn der 1930er Jahre einer Berufung an die Columbia University; 1934 kehrt er Wien endgültig den Rücken und ist als unermüdlicher Vortragsreisender an der Verbreitung seiner Schule der Individualpsychologie noch selbst entscheidend beteiligt.

Anlässlich des einhundertsten Jahrestages der Begründung der Individualpsychologie wird die lange Zeit verschollen geglaubte Urne Alfred Adlers von Edinburgh nach Wien überführt und im Juli 2011 in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof beigesetzt.
LinkÖsterrechischer Verein für Individualpsychologie

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