
Brünner Parteitag vom 24. bis 29. September 1899 © Wien Museum Inv.-Nr. 209775
Auf ihrem Parteitag im September 1899 in Brünn beschließen die österreichischen Sozialdemokraten ein Grundsatzprogramm zur Lösung der Nationalitäten- und Sprachenfrage im Sinne der Gleichberechtigung der Völker.
Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1866 verlangen bald auch andere Nationalitäten, insbesondere die Tschechen, innenpolitische Eigenständigkeit. Ein besonderer Streitpunkt ist die Frage, welche Sprache bei behördlichen Verfahren anzuwenden sei.
Zwei Sprachenverordnungen, die erste 1880 bezüglich der „äußeren Dienstsprache“, wonach behördliche Erledigungen in jener Sprache bearbeitet werden müssen, in der die Eingabe erfolgt ist, und eine zweite von 1897 über die „innere Dienstsprache“, also den „inneramtlichen Verkehr“, gehen den tschechischen Nationalisten nicht weit genug. Die deutschsprechende Bevölkerung wiederum empfindet diese Reformen als „existentielle Herausforderung“, es kommt zu Ausschreitungen im Reichsrat und zu Massendemonstrationen in Wien, Graz und Prag.
Der nationale Zwist entwickelt sich zum Kulturkampf. Die Alma Mater Carolina in Prag wird in eine deutsche und eine tschechische Universität geteilt, tschechische Sokol-Vereine, eine tschechische Akademie der Wissenschaften und Künste, ein tschechisches Nationaltheater und ein Nationalmuseum werden gegründet, parallel dazu entstehen in Prag der Deutsche Schulverein – prominentes Mitglied ist der spätere Sozialdemokrat Victor Adler – das Deutsche Theater sowie eine Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Kultur.

Friedrich Engels © Museum Inv.-Nr. 111621/4
Die nationalen Aufwallungen stellen für die internationalistisch ausgerichtete Sozialdemokratie eine besondere Herausforderung dar. Deren Position zur „nationalen Frage“ war stets vom Primat getragen: Soziales vor Nationalem. Nationalitätenkonflikte werden als Konflikte der bürgerlichen Gesellschaften gesehen und würden sich, so die Doktrin, nach der Beseitigung der Klassengegensätze als Nebenwiderspruch von selbst auflösen. Damit aber verkennen die Sozialdemokraten die Sprengkraft der nationalen Gegensätze völlig.
In seinem Aufsatz „Der Anfang des Endes in Österreich“ beschäftigte sich Friedrich Engels bereits 1848 mit dem Anachronismus der Habsburgermonarchie: Die buntscheckige zusammenererbte und zusammengestohlene österreichischen Monarchie, dieser organisierte Wirrwarr von zehn Sprachen und Nationen, dieses planlose Kompositum der widersprechenden Sitten und Gesetze, fängt endlich an, auseinanderzufallen.
Gegen Ende der 1890er Jahre löst die national aufgeheizte Stimmung im Habsburgerreich einen „verhängnisvollen Kampf der Völker gegeneinander“ aus, der den Staat lähmt und zu einer der schwersten Krisen der Monarchie führt.
„Der Saal […] ist festlich geschmückt. Die organisirten [sic!] Wiener Tapezierer, die dies besorgten, haben ihr Bestes geleistet.“ Arbeiter-Zeitung, 25.9.1899
Als der Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei am 24. September 1899 in Brünn zusammentritt, ist der Zerfallsprozess der Donaumonarchie bereits weit fortgeschritten und viele sprechen von einem „Völkerkerker“. Die Sozialdemokratie sieht sich gezwungen, eine konstruktive Position zum Nationalitätenproblem zu entwickeln. Dabei muss sie sich im Spannungsfeld ihres internationalistischen Selbstverständnisses und der immer lauter werdenden Forderungen der „nationalen“ Sozialdemokratien positionieren.
Dem Parteitag liegen zwei Resolutionen zur Diskussion vor, die auf zwei unterschiedlichen Konzepten zur Lösung der nationalen Frage beruhen: Zum einen das Territorialitätsprinzip, vertreten durch Karl Kautsky, das auf die Schaffung autonomer nationaler und sprachlich möglichst homogener Selbstverwaltungsbiete abzielt, und zum anderen das Personalitätsprinzip, vertreten durch die Person Karl Renners, das die Nation nicht mit einem bestimmten Territorium gleichsetzt.
Die Sozialdemokraten verabschieden schließlich ein Grundsatzprogramm, in dem die Gleichberechtigung der Nationen durch die Umwandlung der cisleithanischen Reichshälfte – also der nördlichen und westlichen Teile Österreich-Ungarns – in einen demokratischen Bundesstaat autonomer Völker gefordert wird. An der Formulierung des Programms ist Victor Adler maßgeblich beteiligt.

Victor Adler © WIFAR
Die endliche Regelung der Nationalitäten- und Sprachenfrage in Österreich im Sinne des gleichen Rechtes und der Gleichberechtigung und Vernunft ist vor allem eine kulturelle Forderung, daher im Lebensinteresse des Proletariats gelegen; sie ist nur möglich in einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen, das auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gegründet ist, in dem alle feudalen Privilegien im Staate und in den Ländern beseitigt sind…
Anstelle der historischen Kronländer sollen national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper entstehen, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch nationale Parlamente besorgt wird, die auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes gewählt werden. Diese Selbstverwaltungsgebiete sollen ihre nationalen Angelegenheiten völlig autonom regeln, während Agenden wie die Landesverteidigung, die Außenpolitik und Fragen der Volkswirtschaft im alleinigen Zuständigkeitsbereich des Gesamtstaates verbleiben. Die Rechte von Minderheiten und die Frage einer übergreifenden Vermittlungssprache sollen vom Reichsparlament bestimmt werden.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ist damit die einzige politische Kraft im Vielvölkerstaat, die ein konkretes Programm zur Lösung der nationalen Frage vorlegt. Die Ergebnisse des Brünner Parteitags sind ein Bekenntnis zum Fortbestand des Vielvölkerreiches – bemerkenswert für eine republikanisch gesinnte Partei, der am Erhalt dieses Staates eigentlich nicht viel gelegen war.
Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat.
Dieses „Bündnisangebot an das Herrscherhaus“ ergibt sich aus der Einschätzung, dass die Entwicklungschancen der Arbeiterbewegung ganz wesentlich von der Stärke des Einheitsstaates abhängen. Aber auch wirtschafts- und sozialpolitische Gründe werden ins Treffen geführt, denn der Nationalitätenkonflikt geht mit einer kleinräumigen Zersplitterung von Produktion und Konsum einher und verhindert eine spezialisierte und damit billigere Massenproduktion.
Natürlich ist der Nationalitätenkonflikt auch ein Klassenkonflikt. In Böhmen und Mähren entstammen die Oberschicht, das Besitzbürger- und das Beamtentum, vorwiegend der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe, während Bauern, Kleingewerbetreibende und Lohnarbeiter mehrheitlich tschechisch sind.
Durch die implizite Anerkennung des Habsburgerstaates als „Nationalitätenbundesstaat“ avanciert die Sozialdemokratie zu einem „respektablen“ und stabilisierenden Faktor – eine Volte, auf die das „bürgerliche Lager“ mit Spott und Häme reagiert. Von „Burgsozialismus“ oder „k. k. Sozialdemokratie“ ist da die Rede, und in einem Brief an Friedrich Engels vom 25. August 1892 bezeichnet Victor Adler in bekannt selbstironischer Weise seine Partei als die „Hofräte der Revolution“. Vom linken Flügel der Partei um Otto Bauer und Friedrich Adler wird das Programm als „revisionistisch und illusionär“ abgelehnt.
Die Geschichte wird über dieses ehrgeizige Programm einfach hinweggehen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie kommt es zur Bildung neuer Nationalstaaten mit durchwegs gemischter Nationalitätenbevölkerung.
Literatur: Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie https://www.marxists.org/ deutsch/archiv/bauer/1907/nationalitaet/31-programm.html; Das Brünner Nationalitätenprogramm, 1899, in: Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868 bis 1966. 1967; Friedrich Engels, Der Anfang des Endes in Österreich. in: Deutsche-Brüsseler-Zeitung, Nr. 8, 27.1.1848 (Marx-Engels Werke Bd. 4); ders., Der demokratische Panslawismus. in: Neue Rheinische Zeitung, 15.2.1849 (Marx-Engels Werke, Bd. 6); Hartmut Lehmann und Silke Lehmann, Das Nationalitätenproblem in Österreich 1848-1918, 1973; Karl Renner, Österreich und das nationale Programm der Sozialdemokratie, 1910; ders., Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, 1918; Franz Zwitter und Augustin Malle (Hrsg.), Das Brünner Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie von 1899, 2003; Karl R. Stadler (Hrsg.), Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, 1976.