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Aktuelle Seite: Nichts als Ärger mit dem Lassallehof
0040 | 3. OKTOBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Nichts als Ärger mit dem Lassallehof

Ein gestutzter Turm und keine „Vertreterin des Hausfrauen­standes“

Nach dem Beschluss des ersten Wohnbauprogramms geht die Gemeinde Wien davon ab, ihre Wohnbauten ausschließlich vom Stadtbauamt entwerfen zu lassen. Ende Oktober 1923 schreibt sie erstmals einen Wettbewerb für eine Wohnhausanlage aus; diese soll nach dem „Erwecker des deutschen Proletariats“ Ferdinand Lassalle benannt werden. Der Publizist Max Ermers begrüßt das gesunde Prinzip des künstlerischen Wettbewerbes in der linksliberalen Zeitung Der Tag auf das wärmste.

Insgesamt werden 91 Projekte eingereicht; die Jury besteht aus Stadtrat Franz Siegel, Stadtbaudirektor Max Fiebiger, Oberbaurat Friedrich Jäckel sowie den Architekten Josef Hoffmann, Robert Oerley, Siegfried Theiß und Franz Kaym.

Der erste Preis geht an Karl Krist, der zweite an das Projekt von Hubert Gessner, das dieser gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Hans Paar, Fritz Schlossberg und Fritz Waage eingereicht hatte. Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen gelangt der zweitplatzierte Entwurf zur Ausführung.

Ein Ergebnis, wie es nicht sein soll und nicht sein dürfte!

Zum Jahreswechsel 1923/24 sind die Wettbewerbsarbeiten für 14 Tage im Festsaal des Wiener Rathauses ausgestellt. Anton Brenner, der selbst drei Projekte eingereicht hatte, erweist sich als schlechter Verlierer und veröffentlicht im Neuen Wiener Tagblatt einen Bericht, der sowohl die Jury als auch die siegreichen Projekte kritisiert.

Die Wohnungen sollen zum größeren Teil aus Zimmer, Wohnküche, Spüle, kleinem Vorraum und Abort bestehen, zitiert Brenner aus den Wettbewerbs-Bestimmungen und unterstellt der Jury sogar, sich nicht auf das Planlesen verstanden zu haben, da manche der prämierten Entwürfe nicht einmal den Baugesetzen entsprächen. Weiters bemängelt er: Von einer hauswirt­schaftlichen Grundrißform ist nichts in den preisgekrönten Entwürfen zu sehen. Spüle und Kochherd liegen zumeist grundsätzlich in den entgegengesetzten Ecken der Wohnküche.

Zwei Tage später erscheinen im Neuen Wiener Tagblatt „weitere kritische Bemerkungen“ des Architekten Franz Schacherl: Bei dem mit dem zweiten Preise ausgezeichneten Entwurf (Kennwort ‚Lassalleturm‘) ist die Grundrißlösung noch schlechter als beim Projekt des ersten Preises. Diese Fassaden sind für ein Volkswohnhaus wohl nicht ernst zu nehmen; man denke: ein veritabler Turm, Terrassen usw. Das ganze wäre eine Attrappe, nichts weiter, und erforderte enorme Baukosten.

Auch mit der Zusammensetzung der Jury ist Schacherl nicht einverstanden, der gerne eine Vertreterin des Hausfrauenstandes eingebunden gesehen hätte, die befähigt erscheint, über gute Wohnungseinteilung und Wohnungsausnützung aus Erfahrung richtig zu urteilen.

Ein notwendiges Nachwort und ein Nachspiel

Und dieser Kompromiß war es, der so starken Widerspruch in der Öffentlichkeit wachgerufen hat. Der Tag, 6.1.1924

Um die Gemüter zu kalmieren, veröffentlicht Max Ermers im Januar 1924 „ein notwendiges Nachwort“ und nimmt die Jury in Schutz: Sie hat fleißig und gewissenhaft ihres nicht leichten Amtes gewaltet. Ihre Zusammensetzung aus Baubeamten und Vertretern von Richtungen zweier Generationen war keine sehr glückliche. Kompromiß bei der Preisverteilung war hier vorauszusehen.

Für Anton Brenner bleibt die öffentliche Kritik am Wettbewerb nicht folgenlos. Er muss, wie Markus Kristan 2011 schreibt, die Meisterklasse von Peter Behrens an der Akademie der bildenden Künste verlassen und in die Klasse von Clemens Holzmeister wechseln. In Wien erhält er kaum noch Aufträge und arbeitet ab 1926 vorwiegend in Deutschland.


Einen Kompromiss verlangt die Gemeinde Wien auch Hubert Gessner ab. Ähnlich wie beim späteren Reumannhof plant Gessner für den Lassallehof einen turmartigen Bauteil. Den Begriff „Wolkenkratzer“, der 1924 in den Debatten herumgeistert, lehnt er jedoch ab: Deswegen, weil ein Haus sechs Stockwerke mehr als ein anderes hat, brauchte es eigentlich noch nicht als „Wolkenkratzer“ bezeichnet werden. Richtiger ist dafür die Bezeichnung „Hochhaus“.

Stadtrat Franz Siegel beendet die Diskussionen und stutzt das Projekt zurecht. „Wolkenkratzer“ seien zu teuer, man hätte seine Wasser-, Feuer- und Aufzugsorgen. Geßners Projekt für Margareten werde deshalb gestutzt werden. Auch der Lassalle-Turm, mit dessen Ausführung der Genannte übrigens betraut wird, muß an Höhe einbüßen.

Das Ideal der Gemeinde

Reform muß allerorten einsetzen.Franz Siegel, 21.2.1924

Die Vorstellungen der Gemeinde Wien über das Wohnbauprogramm formuliert der „oberste Chef des Wiener Bauwesens“ laut Max Ermers folgendermaßen: Haupt­augenmerk wird der gesunden, bequemen, arbeitssparenden Wohnung zugewandt. Die Kommunalwohntype, bestehend aus Wohnküche, Zimmer, Spüle, Vorraum und W.C., manchmal noch ein Kabinett mehr, ist das Ideal der Gemeinde. Die Wohnküche als regelrechtes Zimmer gedacht, allerdings mit Kochvorrichtung. […] Nicht das Einzelhaus ist die Baueinheit, sondern der große Baublock mit Hunderten von Wohnungen. Ihn gilt es zu organisieren.

Der Lassallehof wackelt

Die Bauarbeiten beginnen im Mai 1924. Die Gesamtfläche des Areals umfasst 6.720 m2, verbaut werden 57,7 Prozent. Neben 290 Wohnungen in der Größe von 25 m2 bis 75 m2 sind 14 Geschäftslokale, zwei Ateliers, 18 Waschküchen, eine Mutterberatungsstelle, ein öffentlicher Kindergarten, eine Volksbibliothek sowie Räume für die Straßensäuberung geplant.


Im Zuge der Bauarbeiten tauchen Baumängel auf, die auch im Finanzausschuss thematisiert werden. Auch bei den Meldungen über die Senkungen im Wohnhausbau Lassallehof handelte es sich nur um normale Vorgänge, wie sie eben bei jedem Neubau verzeichnet werden, beruhigt die Arbeiter-Zeitung im Dezember 1925.

Die „Hetze gegen die Wohnbautätigkeit der Gemeinde“ hält jedoch an. Im September 1926, wenige Wochen vor der geplanten Eröffnung, muss Stadtrat Siegel im Gemeinderat erneut zu den Gerüchten Stellung nehmen, die besagten, der Lassalle-Hof sei derart schlampig gebaut worden, daß er bereits zwei Meter tief in die Erde eingesunken ist. Wenn diese Versenkung weitergehe, werde der Lassalle-Hof noch auf der anderen Seite der Erdkugel herauskommen.

Sodann bestieg der Bürgermeister die Rednertribüne

Am Sonntag, dem 3. Oktober 1926 ist es so weit, Zwei Feste der Wiener Gemeindeverwaltung stehen an. Im Anschluss an die Eröffnung der neuen Friedensbrücke zieht der Tross der Festgäste geschlossen zur Eröffnung des Lassallehofes.

In seiner Rede nimmt Bürgermeister Karl Seitz Bezug auf den prestigeträchtigen Internationalen Städtebaukongress, der im September in Wien stattgefunden und die Wiener Wohnbaupolitik mit heftiger Kritik konfrontiert hatte.

Stein des Anstoßes ist die Diskussion um „Hochbau“ vs. „Flachbau“ – also Siedlung oder Gemeindebau. Seitz will vor allem als Sozialdemokrat nicht utopistische Zukunftsbilder malen, schließt aber nicht aus, dass auch einmal eine Zeit kommen könnte, in der die Gesellschaft jeder einzelnen Familie ein besonderes Haus zur Verfügung stellt. Die finanzielle Lage der großen Städte – ob London, Berlin, Paris oder Wien – würde eine solche Bauweise für alle und als normale Bauart jedenfalls ausschließen. Was für eine Stadt mit fünfzigtausend bis hunderttausend Einwohnern hie und da möglich ist, kann nicht zur Norm der Millionenstadt werden.

Arbeit und Wohnen

Zwar wisse man, dass die Wohnungen im Lassallehof selbstverständlich nicht prunkhaft sind, auch nicht übermäßig groß, man müsse aber der Not der Zeit Rechnung tragen. Vorrangiges Ziel der Gemeinde sei es, die Wohnungsnot zu bekämpfen, insbesondere die Wohnungsnot der geistig und manuell arbeitenden Menschen, daß wir dem Manne der Arbeit dort, wo er seine Arbeitsstätte hat, in möglichster Nähe auch eine gesunde Wohnstätte bauen müssen.

Und so übergibt Bürgermeister Seitz den Lassallehof „der Benützung“: Wir bitten Sie, den Bau in Schönheit zu bewahren, wie Sie ihn übernommen haben. Wir bitten Sie auch, die Kinder zur Anerkennung des allgemeinen Eigentums zu erziehen. Dann werden Sie den Lehren des Mannes Rechnung tragen, nach dem der Bau benannt ist.

Wieder sind es die großen Formen…

Vergessen sind die Kontroversen. Die Fassade ist zur Gänze in lichtgrauem Edelputz ausgeführt, was dem Bau ein besonderes Gepräge verleiht, schwärmt Oberbaurat Josef Bittner anlässlich der Eröffnung in der Arbeiter-Zeitung. Wieder sind es die großen Formen, mit denen die Wirkung erzielt wird: große Vor- und Rücksprünge in der Fassade, Erker, Loggien, Terrassen, Balkone usw. Und er hebt sogar den „achtstöckigen Turm“ lobend hervor, der eine weite Fernsicht auf Wien und seine Umgebung bietet.

Durch Zusammenlegungen der kleinsten Wohneinheiten verfügt der Lassallehof heute über 268 Wohnungen.

Literatur
Markus Kristan, Hubert Gessner. Architekt zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratie 1871–1943, 2011

HUBERT GESSNER

Sonderausstellung 2011/12

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