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0048 | 3. NOVEMBER 2021    TEXT: JULIA BANDSTÄTTER

„Nüchterne Realpolitik und revolutionärer Enthusiasmus in einem Geist vereinigt“

Anfang November 1926 beschließt die Sozialdemo­kratische Arbeiterpartei auf ihrem Parteitag in Linz ein Programm, das bis heute als eines der wichtigsten Dokumente des Austromarxismus gilt.

Der Parteitag, an dem 424 Delegierte und an die 100 Gäste teilnehmen, findet von 30. Oktober bis 3. November 1926 im Linzer Volksgartensaal statt. Im Rahmen dieses Parteitages sollten, so Otto Bauer rückblickend, die Erfahrungen des Proletariats, die seit der Revolution von 1918 gesammelt worden waren, zu einem Programm zusammengefasst werden, zu einem Programmnicht für einen Wahlkampf, nicht für eine Parlamentsperiode, sondern zu einem Programm, das uns jahrzehntelang führen soll.

Das neue Parteiprogramm, das u.a. von Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner und Julius Deutsch verfasst wurde, stellt einen Kompromiss zwischen dem „rechten“ und dem „linken“ Parteiflügel dar. Damit folgt es der politischen Strategie des Austromarxismus, der, so Otto Bauer, nüchterne Realpolitik und revolutionären Enthusiasmus in einem Geist vereinigt.

Kampf um die Staatsmacht

In der Einleitung heißt es: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, gestützt auf die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus und auf die Erfahrung jahrzehntelanger sieghafter Kämpfe, eng verbunden den sozialistischen Arbeiterparteien aller Nationen, führt den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und setzt ihm als Ziel die Überwindung der kapitalistischen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung. 

Noch 300.000 Stimmen, und es gibt in Österreich nur mehr eine sozialdemokratische Regierung! Otto Bauer

Die Eroberung der politischen Macht, so Bauer, erscheine nicht mehr als ein Traum für die ferne Zeit […], sondern als Aufgabe, die wir uns unmittelbar stellen. Der Kampf um die Staatsmacht werde auf parlamentarischem Boden, unter den Formen und den Bürgschaften der Demokratie, zu führen sein. Dem kommunalen Reformwerk des Roten Wien komme dabei eine Vorbildwirkung für ganz Österreich zu, um früher oder später auch auf Bundesebene die absolute Mehrheit erringen zu können.

Diktatur nur, wenn man uns zwingt ...

Sollte die Bourgeoisie allerdings den demokratischen Kampfboden sprengen, dann bleibt uns nichts andres übrig als die Gewalt, rechtfertigt Bauer die Politik der „defensiven Gewalt“.

Am Parteitag wird diese Frage heftig debattiert – es war ein Ringen um die Bewertung der Demokratie, […] um den Begriff der Diktatur –, denn das Programm will den unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Partei gerecht werden.

Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.

Die Gewalt als Abenteuer, die Gewalt als Prinzip, die Gewalt als Selbstzweck lehnen wir ab. Otto Bauer

Aus dem bürgerlichen Lager hagelt es harsche Kritik. Otto Bauer kontert: Und wenn die kapitalistische Presse in den letzten Tagen uns immer wieder erzählt hat, daß wir schlechte Demokraten seien – die Herren, deren demokratische Überzeugung sehr jung ist, sind sehr wachsam darüber, daß wir nicht die Demokratie, die wir gegen sie erkämpft haben, verlassen –, wenn sie das sagt, dann kann sie entweder nicht lesen oder sie lügt bewußt.

Gegenwartsaufgaben sind uns dort gestellt

Ausführlich widmet sich das Linzer Programm den drängendsten Fragen der Zeit, der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Frauenfrage, dem Bildungswesen und der Kulturpolitik sowie der Stellung von Kirche und Religion innerhalb des demokratischen Staatswesens.

Gefordert werden die lückenlose Einführung des Achtstundentages, der Ausbau der Arbeitslosen­fürsorge, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehr-, Lern- und Arbeitsmittel sowie die Erklärung der Religion zur Privatsache des Einzelnen.

Auf Druck der sozialdemokratischen Frauen finden auch die langjährigen Forderungen nach straffreien und kostenlosen Schwangerschafts­abbrüchen sowie der Zugang zu kostenfreien Verhütungsmitteln Eingang in das Programm.

Dazu Otto Bauer: Es gibt bei uns keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß der § 144 eine barbarische Gesetzesbestimmung ist und daß sie fallen muss. […] Wir leugnen nicht, […] daß die häufige Übung des Abortus eine Gefahr ist. Aber wir meinen, daß diese Gefahr […] nicht durch Strafdrohungen zu bekämpfen ist, sondern zu bekämpfen einerseits durch den Ausbau eines Systems von Beratungsstellen […] und anderseits durch den Ausbau eines Systems der sozialen Fürsorge.

Schutz gegen die Überbürdung der Frauen durch die doppelte Arbeit 

Der frauenpolitische Abschnitt des Linzer Programms ist auch über die Abschaffung des Paragrafen 144 hinaus zukunftsweisend. Losungen wie „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, die Forderung nach der Aufhebung aller Gesetze, die Frauen benachteiligen und nach einer Gleichberechtigung der Frauen im öffentlichen Dienst, das Verlangen nach Errichtung öffentlicher Tagesheimstätten für Kinder oder die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter im öffentlichen Erziehungswesen mögen heute nicht mehr utopisch klingen – vollständig umgesetzt sind sie allerdings immer noch nicht.

Internationalismus als Programm

Im abschließenden Kapitel Die Internationale heißt es, dass die Überwindung der kapitalistischen und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nur auf internationaler Ebene zu verwirklichen seien. Die sozialistischen Arbeiterparteien haben daher die Aufgabe, die Arbeiter aller Länder zum gemeinsamen Kampfe zu vereinigen, sie zu lehren, einander in ihren Kämpfen beizustehen.

…ein tragischer Zwiespalt von Gedanken und Tat

Wer im entscheidenden Moment nicht zu handeln versteht, der gibt sich geschlagen. Wilhelm Ellbogen

Die praktischen Auswirkungen des Linzer Programms bleiben bescheiden. Den Konservativen liefert es den Vorwand, unermüdlich vor der „Diktatur des Proletariats“ zu warnen, und obwohl gerade sie die Demokratie und die Arbeiterbewegung immer aggressiver bekämpfen, verharrt die Sozialdemokratie im Zögern, Zaudern und Abwarten.

Selbst als Bundeskanzler Dollfuß im März 1933 das Parlament ausschaltet, bleibt die Parteileitung untätig. Es fehlt ihr, wie der Historiker Adam Wandruszka bemerkt, die Bereitschaft, die Theorie der defensiven Gewalt in der Praxis umzusetzen – ein tragischer Zwiespalt von Gedanken und Tat.

Literatur
Otto Bauer: Werkausgabe, Wien 1975.
Norbert Leser: Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus in Theorie und Praxis, Wien 1985.
Vrääth Öhner: Austromarxismus, in: Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934, Berlin/Boston 2020, 143–165.

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