„Wiener Schulen“ gibt es viele – in der Medizin, der Entwicklungspsychologie oder der Kunstgeschichte. Will man von einer „Wiener Schule der Marktanalyse“ sprechen, dann ist er ihr „Ober-Studien-Rat“: Paul Felix Lazarsfeld
Paul Felix Lazarsfeld wird 1901 in eine gutsituierte, intellektuelle jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater ist der Rechtsanwalt Robert Lazarsfeld, seine Mutter die Individualpsychologin und Schriftstellerin Sofie Lazarsfeld.
Die Mutter vom Paul Lazarsfeld hatte einen Salon, und in Wirklichkeit sind es ja die Salons gewesen, wo all diese Leute hingekommen sind: vom Max Adler über Fritz Adler bis hin zum Alfred Adler. Also, der Paul Lazarsfeld war sozusagen mitten in der Hautevolee, erzählt die Mitarbeiterin der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle Gertrude Wagner Jahre später.
Mitten in der sozialdemokratischen „Hautevolee“, wohlgemerkt. Paul engagiert sich früh bei den sozialistischen Mittelschülern und ist 1918 gemeinsam mit Ludwig Wagner Mitbegründer der Freien Vereinigung sozialistischer Mittelschüler.
Zu Anfang der zwanziger Jahre waren wir überzeugt, daß die Reformen der Gemeinde Wien auf sozial- und schulpolitischem Gebiet den Beginn der neuen Zeit bedeuteten.Paul Felix Lazarsfeld
Die beiden Freunde leiten 1924 eine Ferienkolonie und unternehmen dort den Versuch, eine Gemeinschaft von Kindern und Heranwachsenden sich frei auswirken zu lassen. Die Ärztin Jenny Adler, Frau des Soziologen Max Adler, versieht den ärztlichen Dienst in dem Ferienlager und ist voll des Lobes über diesen „eigenartigen Erziehungsversuch“, in dem Erzieher nicht „Ruhe brüllen“ müssen und in der ein achtjähriges Mädchen in der Kinderversammlung rügt, dass fremde Kinder, die als Gäste bei Tisch aßen, von den Heimkindern schlecht behandelt wurden.
In der Arbeiter-Zeitung resümiert sie: Dieser Erziehungsversuch zeigt, daß die Organisation von Kinder- und Jugendlichengemeinschaften neue Möglichkeiten der Beeinflussung der Jugend im Sinne der Entwicklung des sozialen Geistes schafft.
Paul Felix Lazarsfeld studiert Mathematik und Physik an der Universität Wien und wird1925 zum Doktor der Philosophie promoviert. Während eines Postgraduierten-Studiums in Frankreich tritt er dem Parti Socialistebei. Nach Wien zurückgekehrt, arbeitet er zunächst als Mathematiklehrer.
Oh, er war ein außerordentlich interessanter Mensch, sehr stimulierend, sehr an allem interessiert, was ich gemacht habe […] Und er war in der sozialistischen Jugendbewegung die angesehenste Figur.Marie Jahoda
1927 erhält Lazarsfeld eine von der Rockefeller Foundation bezahlte Stelle als Assistent von Karl und Charlotte Bühler am Psychologischen Institut der Universität Wien; er heiratet die Studentin der Psychologie, Marie Jahoda, die er bereits 1919 in einer Sommerkolonie kennengelernt hatte.
Der „Frauenversteher“ referiert 1928 im Arbeiterheim Ottakring sogar über „Das Seelenleben der Frau“ – dennoch trennt sich das Paar wenige Jahre später.
1931 gründet Lazarsfeld die Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, die er bis zum September 1933 leitet. Es sollten zwei überaus produktive Jahre werden.
Zu Beginn bleibt Lazarsfeld seinem bisherigen „Forschungsfeld“, Kinder und Jugendliche, treu und verfasst eine Studie zum Thema „Jugend und Beruf“. Gemeinsam mit Lotte Rademacher wertet er die Berufswünsche der Abiturienten von Wiener Mittelschulen aus: Je sozial beengter die Lage des Vaters ist, um so seelisch beengter ist die Berufswahl des Sohnes. Söhne aus begütertem Hause wenden sich freien geistigen Berufen zu, während Kinder von Arbeitern und kleinen Beamten sich meist die Laufbahn eines Beamten, Angestellten oder bestenfalls eines Volksschullehrers wählen.
Als nächstes plant Lazarsfeld eine Studie über das „Freizeitverhalten“. Otto Bauer findet dieses Vorhaben angesichts der Massenarbeitslosigkeit jedoch „albern“ und regt seinerseits eine wissenschaftliche Studie über das Phänomen der Arbeitslosigkeit an. Die bahnbrechende Studie Die Arbeitslosen von Marienthal erscheint 1933. Den entscheidenden Anstoß zur Wahl des Ortes gibt wahrscheinlich eine Reportage Ludwig Wagners im Kleinen Blatt.
Aus 1300 Arbeitern wurden 1300 Arbeitslose.Das Kleine Blatt, 1930
Die Forschungsstelle muss allerdings auch Geld verdienen und verschreibt sich deshalb, wie es in einem Werbeprospekt heißt, den wirtschaftspsychologischen Fragen der Branchenuntersuchung:wann wird eine Ware gekauft, wann gefällt ein Buch, was zieht an einem Kinostück an –kurz: der Marktanalyse. Auftraggeber der Studien sind Unternehmen wie die Ankerbrotwerke oder die Lebensmittelfabrik Mautner Markhof.
Ein weiterer Auftraggeber ist die RAVAG, die Radio-Verkehrs-AG, die bei der ÖWF eine qualitative Hörerbefragung in Auftrag gibt. Auch diese Studie hat Modellcharakter – selbst in den USA existiert zum damaligen Zeitpunkt noch keine vergleichbare Untersuchung.
Im selben Jahr führt Lazarsfeld ein „Radiomassenexperiment“ durch, das klären soll, welche Zusammenhänge zwischen Stimme und Persönlichkeit bestehen. Protagonisten dieses Experiments sind neun Personen, ausgewählt nach Berufsgruppen. Die Forscher suchen den typischen Intellektuellen, den wahren Chauffeur, die führend berufstätige Frau, den Geistlichen, den Kaufmann, die Angestellte, den Lehrer; und dazu einen Buben und ein Mädel.
All diese „Typen“ sprechen denselben Text ins Mikrophon, „die Ankündigung über den verlorenen Hund Lux“. Die Hörer sind nun aufgerufen, ihre Einschätzungen bezüglich Geschlecht, Alter und Beruf abzugeben – und, ob diese Person eine „führende Lebensstellung“ einnimmt: Ist er geeignet, andere zu führen, anzuleiten oder umgekehrt: ist er unselbständig und darauf gestellt, sich anleiten zu lassen.
Der Privatdozent und der Chauffeur werden von den 3.000 Teilnehmern am häufigsten identifiziert. Bei den übrigen Männern, dem Priester, dem Kaufmann und dem Lehrer, ist es offenbar komplizierter. Ein Viertel der Hörer hielten jeden von ihnen für einen Beamten und ein Achtel ungefähr jeden für einen Kaufmann.
Die für das Forscherteam erstaunlichsten Resultate bringen jedoch die Einschätzungen bezüglich des Aussehens. Man kann ruhig sagen […], daß die Stimme für den Körperbau des Menschen wirklich charakteristisch ist.
Es gibt keine edlen und unedlen Gegenstände der Forschung.Paul F. Lazarsfeld
Untersuchungen wie diese ebnen Lazarsfelds Weg in die USA – und damit zu einem weit größeren Betätigungsfeld. Als Stipendiat der Rockefeller Foundation geht er im Herbst 1933 nach New York. 1935 beschließt er zu bleiben und betrachtet sich fortan „als Marxist auf Urlaub“.
Über seine Tätigkeit in den USA im Bereich der Wirtschafts- und Marktpsychologie berichtet Der Wiener Tag: Die Berichte des jungen österreichischen Gelehrten Dr. Paul Lazarsfeld würden interessante, ja fast aufwühlende Einblicke in dieses neue Verbindungsterrain zwischen praktischem Leben und theoretischer Wissenschaft geben.
Es gab Zeiten, da der Kaufmann des Glaubens war, mit Hilfe des „Fingerspitzengefühls“, des Instinkts, des Flairs, diese Fragen lösen zu können. Die Marktpsychologie weist ihm nach, daß er dies nur in den allerseltensten Fällen kann.
In Amerika spielen diese Untersuchungen, die in Österreich ihren Ausgang genommen haben, bereits eine überragende Rolle, schreibt die links-liberale Zeitung und konstatiert: Eine neue Wissenschaft ist hier entstanden. Eine Wissenschaft der Kleinigkeiten, von denen Wohl und Wehe der Geschäftsbetriebe und ihrer Angestellten abhängt.
Die Marktanalyse als Grundlage des Geschäftslebens. Auch Paul Felix Lazarsfeld findet es rückblickend „kurios“, dass diese ursprünglich österreichische Forschungsrichtung später in aller Welt als „typisch amerikanisch“ gilt.
Nach verschiedenen Zwischenstationen wird Paul Felix Lazarsfeld im Jahr 1940 Soziologieprofessor an der Columbia University in New York. 1944 kehrt er gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück und veröffentlicht, gemeinsam mit Bernard R. Berelson und Hazel Gaudet, die Monografie „The People’s Choice“. Mit dieser Arbeit, die 1969 unter dem deutschen Titel „Wahlen und Wähler. Soziologie des Wahlverhaltens“ erscheinen wird, begründen die Autoren die mikrosoziologische Denkrichtung zur Erklärung des Wählerverhaltens bei politischen Wahlen.
Paul Felix Lazarsfeld stirbt am 30. August 1976 in New York. In einem Nachrufschreibt der französische Soziologe Raymond Boudon: Viele der von ihm eingeführten Ideen sind derart vertraut geworden, dass kaum jemand sich noch die Mühe macht, ihm die Urheberschaft zuzurechnen.
Literatur
Die Arbeitslosen von Marienthal, Vorspruch zur neuen Auflage, 1960
Wolfgang Langenbucher (Hrsg.), Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, 2008
Reinhard Müller, Gertrude Wagner im Gespräch mit Christian Fleck, 1984