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Aktuelle Seite: Politik war sein Schicksal.
0117 | 4. JULI 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Politik war sein Schicksal.


Am 4. Juli 1938 stirbt Otto Bauer in Paris.

Nach der Niederlage des Republikanischen Schutzbundes im Februar 1934 gelingt Otto Bauer die Flucht in die Tschechoslowakei, wo er in Brünn das Auslandsbüro der österreichischen Sozial­demokraten (ALÖS) aufbaut und die nunmehr illegale Arbeiter-Zeitung sowie die Zeitschrift Der Kampf nahezu im Alleingang verfasst. Trotz des Fiaskos ist Bauer von Kampfesgeist erfüllt. Seine bereits im März unter dem Titel „Der Aufstand der öster­reichischen Arbeiter“ erschienene Analyse der Februarkämpfe wird in hoher Auflage aus der Tschechoslowakei nach Österreich geschleust und verbreitet.

Bauers Schilderungen der Ereignisse scheinen in einigen Punkten überzogen oder bewusst unscharf – wohl auch zur Rechtfertigung des eigenen, von Freund und Feind kritisierten Verhaltens. Denn nicht nur das Regime wirft ihm vor, die Arbeiter zuerst „verführt“ und dann „schmählich im Stich gelassen“ zu haben.

Der Historiker Kurt Bauer spricht in seinem 2019 erschienenen Werk „Der Februaraufstand 1934“ von „übermäßiger Lobpreisung“, die Otto Bauer „auf den heldenhaften Kampf der Schutzbündler anstimmt“, im Großen und Ganzen aber stellt die schmale Streitschrift eine erstaunlich objektive, nüchterne und hellsichtige Analyse des Staatsstreiches der Regierung Dollfuß dar und spricht auch die eigenen politischen Fehler offen an.

Eher ein Lehrer als ein politischer Führer

Persönlich zieht Otto Bauer die Konsequenzen aus dem Scheitern seiner Strategie und der unverhohlenen Kritik, die ihm aufgrund seiner unent­schlossenen,  zögerlichen Haltung aus den eigenen Reihen entgegenschlägt. Er wolle der Partei zwar weiterhin als Berater und als Publizist zur Verfügung stehen, selbst aber keine Führungspositionen mehr übernehmen.

Noch Tage vor dem 12. Februar hatte Bauer zu Otto Leichter gesagt: Ich bin mir bewußt, daß ich eher ein Lehrer des Proletariats als ein politischer Führer bin und lieber wissenschaftlich arbeite. In diesem Sinne erklärt sich Bauer auch bereit, den sozialdemo­kratischen Widerstand im Untergrund zu unterstützen, was mit dazu beiträgt, dass sich die Revolutionären Sozialisten unter Joseph Buttinger – gleichsam als Nachfolgeorganisation der SDAP – in Form einer konspirativen Kaderpartei etablieren können.

1936 erscheint – immer noch im Brünner Exil – Otto Bauers letztes und wahrscheinlich bedeutendstes Werk „Zwischen zwei Weltkriegen“, in dem er die Konzeption eines „integralen Sozialismus" entwickelt. Mittelfristig sollten die radikalen und reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung wieder vereint werden.

Jetzt marschiert der Hitler ein. Und der Hitler bringt den Krieg!Otto Bauer zu Rosa Jochmann, Anfang 1938

Die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten

Aufgrund des Drucks des österreichischen Regimes auf die demokratische Regierung in Prag wird die Situation Bauers in Brünn allerdings zunehmend prekär. Als er Anfang März 1938 erleben muss, wie seine Heimat ohne den geringsten Widerstand in die Hände der Nationalsozialisten fällt, versinkt Bauer in „psychische Depression“, wie sich sein Freund, der Journalist Otto Leichter, erinnert. Der Anschluss Österreichs an ein demokratisches Deutschland, den er und viele andere Sozialdemokraten noch 1919 angestrebt hatten, hatte sich in das Gegenteil verkehrt.

Anfang April 1938 nimmt Bauer in Brüssel an einer Tagung der aus Österreich geflohenen Sozialisten teil. Er trifft mit Friedrich Adler und dem Vorsitzenden der Revolutionären Sozialisten, Joseph Buttinger, zusammen. Die große Mehrheit glaubt immer noch an eine gesamtdeutsche Revolution. In der „Erklärung von Brüssel“ heißt es: Die österreichischen Arbeiter können ihre Befreiung nicht anders erkämpfen, das österreichische Volk kann von der Despotie des Dritten Reiches nicht anders befreit werden als durch die gesamtdeutsche Revolution.

Man einigt sich auf die Vereinigung des Auslandsbüros der österrei­chischen Sozialdemokraten und der Revolutionären Sozialisten zur Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES).

Neues Exil – von Brünn nach Paris

Als Otto Bauer und Otto Leichter Anfang April von Brüssel nach Paris fahren, ist Bauer von einer „ungewöhnlichen Traurigkeit“ erfüllt. Wahrscheinlich war ihm bereits bewusst, welche Konsequenzen die weit entfernte Emigration haben und dass er seine Heimat wohl nie wiedersehen würde. Besonders quält Bauer das Schicksal Robert Dannebergs, der in der Nacht auf den 12. März bereits auf tschechischem Boden gewesen, jedoch wieder zurückgeschickt und anschließend nach Dachau verschleppt worden war.

Bauer eilt zurück nach Brünn, um das dortige Auslandsbüro aufzulösen. Ende April 1938 übersiedelt er nach Paris. In Der Kampf schreibt er: Es war das Schicksal des österreichischen Sozialismus, daß sich seine ganze Entwicklung auf dem Boden eines dem Untergang geweihten Staatswesens vollzog.

Die darauffolgenden Monate stellen den Tiefpunkt in Otto Bauers Leben dar. Im Mai wird das Büro der Auslandsvertretung eingerichtet, und bereits am 2. Juni erscheint die erste Nummer der neuen Zeitschrift, La lutte socialiste. Darin versucht Bauer verzweifelt, einen zukünftigen Weg für den österreichischen Sozialismus zu skizzieren. Neuerlich spricht er sich für eine gesamtdeutsche Revolution aus, da er eine sozialistische Revolution in Österreich nicht für durchsetzbar hält.

Bauer hat sich immer als Deutscher betrachtet und gefühlt.Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten

Der letzte Artikel Otto Bauers befasst sich mit der drohenden Invasion der Tschechoslowakei. Noch hofft er auf ein gemeinsames Vorgehen der europäischen Nationen gegen Deutschland.

Endstation Rue Turgot

Der 4. Juli 1938 ist ein warmer Sommersonntag, die Stadt ist menschenleer. Bauer trifft Otto Leichter in dem kleinen Parteibüro und tröstet diesen wegen des ungewissen Schicksals seiner Frau Käthe und ihrer beider Söhne. Anschließend ist Bauer mit Friedrich und Kathia Adler verabredet, die beide kurz zuvor aus Brüssel angereist waren, um an einer Konferenz der Sozialistischen Internationale teilzunehmen.  

Am Abend kehrt Otto Bauer in sein Pariser Hotel in der Rue Turgot in der Nähe des Montmartre-Hügels zurück – und erleidet einen Herzinfarkt. Ein Arzt wird gerufen, dieser verabreicht Bauer eine Injektion und entfernt sich wieder. Helene Bauer, so wie ihr Mann erst wenige Wochen in der Stadt, ist ratlos. Sie informiert Otto Leichter, der bei Freunden wohnt. Leichter eilt zum Hotel.

Helene glaubt zunächst noch, ihr Mann schliefe. Otto Bauer liegt ruhig und entspannt im Bett. Er sah nicht vergrämt oder bleich oder übermüdet aus, wie so oft seit den tragischen Märztagen; ein kühner Zug lag über seinem Gesicht, und das Haar fiel in einer Welle über die stolze Stirn.

Eine Stunde später erscheinen Friedrich und Kathia Adler, die man in ihrem Hotel benachrichtigt hatte. Ein weiterer Arzt wird gerufen – doch Otto Bauer ist bereits tot. Er sei, so Leichter, in seinem bescheidenen Hotelzimmer „im wahrsten Sinne des Wortes an gebrochenem Herzen“ gestorben.


Der „wohl bedeutendste Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie“, so der Historiker Wolfgang Maderthaner, findet seine vorletzte Ruhe auf dem Friedhof Père Lachaise in unmittelbarer Nähe des Denkmals für die Kämpfer der Pariser Kommune von 1871. 1948 wird seine Urne nach Wien gebracht und am 12. November 1950 in das von Hubert Gessner geschaffenen Ehrengrab am Zentralfriedhof umgebettet, in demzu diesem Zeitpunkt bereits Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer (1918) sowie Bauers Frau Helene (1942) bestattet sind.

Wäre Otto Bauer – das Gehirn und die Seele des Austromarxismus – 1945 noch am Leben gewesen und wäre er nach Österreich zurückgekehrt, hätte sich eine Auseinandersetzung über die Fehler der alten Führung wohl kaum vermeiden lassen, aber mit der toten Ikone, die man an Feiertagen beschwor, im Alltag jedoch verleugnete, ließ es sich für die Nachkriegs-SPÖ gut leben, schreibt Norbert Leser im Jahr 2000.

Literatur
Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph, 1970; Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, 1981; Wolfgang Maderthaner, Otto Bauer zum 60. Todestag, 1998; Norbert Leser, „...auf halben Wegen und zu halber Tat...“ Politische Auswirkungen einer österreichischen Befindlichkeit, 2000.

„Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!“

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