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Aktuelle Seite: Rüttelt auf die Gleichgültigen und Gedankenlosen! 110 Jahre Frauentag
0009 | 8. März 2021    Text: Lilli Bauer & Werner T. Bauer

Rüttelt auf die Gleichgültigen und Gedankenlosen!

Vor 110 Jahren wird in Österreich, Deutschland, Dänemark und der Schweiz erstmals der Frauentag gefeiert. Damals nicht am achten, sondern am 19. März.

Einen ersten Aufruf bringt die Arbeiterinnen-Zeitung – ja, die gab es damals auch – bereits zu Beginn des Jahres 1911.

Genossinnen! Agitiert für den Frauentag am 19. März. Sorgt, daß er eine mächtige, eindrucksvolle Kundgebung für die Gleichbe­rechtigung der Frauen werde. Rüttelt auf die Gleichgültigen und Gedankenlosen! Feuert sie an zum Kampf um ihr Recht, der zugleich ein Kampf um mehr Brot, mehr Gesundheit und mehr Glück ist.

Die Liste der Forderungen ist lang. Die Frauen demonstrieren für eine Verkürzung der Arbeitszeit, für die Einführung eines freien Samstagnachmittags, für die Vermehrung der weiblichen Fabriksinspektoren, für eine Witwen- und Waisenversorgung, für den Wöchnerinnen- und Kinderschutz sowie gegen die Verteuerung der Lebensmittel durch indirekte Steuern.

Gleiche Rechte zu gleichen Pflichten ist der Ruf der Frauen.

In erster Linie aber geht es den Frauen um das Wahlrecht. Bereits am 1. Oktober 1893 hatten sie in einer Resolution das aktive und passive, allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Vertretungskörper, für alle Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes vom 21. Lebensjahre an gefordert.

Adelheid Popp, eine der Wegbereiterinnen der sozialdemokratischen Frauenbewegung, erinnert sich in „Der Weg zur Höhe“ (1929) an die Reaktionen: Der Spott der bürgerlichen Zeitungen über die „Emanzipationshyänen“, über die „Mannweiber“ und wie man die ersten Pionierinnen noch nannte, fand auch in Arbeiterkreisen vielfach Zustimmung.

Wie der Frauentag wurde

Diese Rückwärtsgewandtheit der eigenen Genossen erklärt Therese Schlesinger, eine der ersten sozialdemokratischen Parlamentarierinnen, in der Arbeiter-Zeitung vom 14. April 1929: In Österreich, wo die Industrialisierung verhältnismäßig spät eingesetzt und sich nur langsam entwickelt hat, haftete der Arbeiterschaft noch durch Jahrzehnte der sozialdemokratischen Bewegung ein kleinbürgerlicher Charakter an, der sich einerseits in engherzigem Sektierertum, anderseits aber im Festhalten an patriarchalen Gewohnheiten manifestierte.

Die Forderung nach einem Frauentag

Als 1906 das gleiche Wahlrecht der Männer durchgesetzt ist, werden die Frauen langsam ungeduldig. Auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz, die 1910 in Kopenhagen abgehalten wird, bringt die deutsche Sozialistin Clara Zetkin den Antrag auf die Einführung eines Frauentages ein, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient.

Am 19. März 1911, vor 110 Jahren, ist es dann soweit. In Wien startet der Frauentag mit einer Versammlung in den Blumensälen der Gartenbaugesellschaft am Parkring 12, der Beginn ist für 15.30 Uhr angesetzt. Victor Adler richtet ein offenes Wort an die anwesenden Männer: Es ist Zeit, daß wir Männer uns auch tätig im Kampfe für das Frauenwahlrecht bewähren.

Die Frauen sind fähig und sie haben den Willen …Victor Adler

Neben Adelheid Popp spricht auch Ernestine ‚Nini‘ von Fürth, eine Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung: Die bürgerlichen Frauen werden für ihre Rechte ebenso energisch kämpfen wie die proletarischen. Ihre Anwesenheit ist der christlich-sozialen Reichspost immerhin eine Randnotiz über die „Suffragetts-Demonstration“ wert: Wie immer zeigte sich auch hier die Allianz zwischen Judenliberalismus und den Sozialdemokraten […].

Heraus mit dem gleichen und direkten Wahlrecht!

Im Anschluss an die Eröffnungs­versammlung marschieren die DemonstrantInnen – die Arbeiter-Zeitung zählt vielleicht 20.000 Frauen und Männer – über die Ringstraße in Richtung Rathaus. Es sind Arbeiterinnen aller Berufssparten, Fabriksarbeiterinnen ebenso wie Heimarbeiterinnen und Dienstmädchen.

Eine neue, ungewohnte Erscheinung, Frauen ziehen hinter roten Fahnen her! Ernst und schweigsam.Arbeiter-Zeitung

300 Ziegelarbeiterinnen von Inzersdorf marschierten im Zug mit eigenen Tafeln. Die Ziegel­arbeiterinnen, abgearbeitete Frauen im Kopftuch und Schürze, einige mit den Schuhen in der Hand, deren Tragen ihnen ungewohnt ist.

Tausende von Parteigenossen stehen vor dem Parlament Spalier, wo der Zug, von „Hoch- und Bravorufen“ empfangen, einige Minuten lang stumm verharrt. Die mitgebrachten Fahnen tragen Aufschriften wie: Heraus mit dem gleichen und direkten Wahlrecht!, Weg mit der Nachtarbeit der Frauen und Tausend Jahre Unrecht geben keine Stunde Recht.

Den Frauen ihr Recht

Es sollte allerdings noch bis zur Gründung der Ersten Republik dauern, bis das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen durchgesetzt wird. Bei der Wahl zur Konstituierenden National­versammlung am 16. Februar 1919 erhalten von 115 Kandidatinnen nur acht tatsächlich auch ein Mandat. Sieben sind Sozialdemokratinnen.

Bei den Gemeinderatswahlen vom 4. Mai 1919 – der Geburtsstunde des Roten Wien – erreicht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 100 von 165 Mandate. 22 Mandate gehen an weibliche Kandidatinnen, 16 von ihnen sind Sozialdemokratinnen.

Der Weg zur tatsächlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen hat gerade erst begonnen.

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