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Aktuelle Seite: „Sein Herz aber schlug für die Kinder.“
0074 | 11. JULI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Sein Herz aber schlug für die Kinder.“

Am 11. Juli 1937 stirbt der österreichische Journalist, Schriftsteller und ehemalige Wiener Vizebürgermeister Max Winter einsam und verarmt in einem Krankenhaus in Hollywood.

Max Winter wird am 9. Januar 1870 in Tárnok, einer kleinen Gemeinde außerhalb Budapests geboren. 1873 übersiedelt die Familie nach Wien; der Vater ist als Beamter bei den k.k. Staatsbahnen tätig, die Mutter ist Modistin. Max absolviert eine Kaufmannslehre, später inskribiert er an der Universität Wien, beendet die Studien allerdings nicht. Es zieht ihn zum Journalismus. Er steigt beim eben erst gegründeten Neuen Wiener Journal, einem „unparteiischen Tagblatt“ ein. 1895 holt ihn Victor Adler zur Arbeiter-Zeitung, wo er zunächst als Gerichtsreporter tätig ist.

Alles mit eigenen Augen schauen...

Er soll vor allem die Stadt kennen, in der er wirkt und er soll all ihren tausend Geheimnissen, Ungereimtheiten, all dem Unrecht und der Bedrückung [...] nachforschen...

Konfrontiert mit dem alltäglichen Elend der „kleinen Leute“, entwickelt Winter seinen eigenen Reportagestil – die teilnehmende Beobachtung. Die ungesündeste Luft für den Berichterstatter ist die Redaktionsluft, lautet sein Credo. Der Reporter muss Tag und Nacht mitten im Strom dieses Lebens schwimmen [...], auf der Straße, in den Fabriken und Werkstätten, in den öffentlichen Gaststätten, in den Häusern und Wohnungen, auf den Sport- und Spielplätzen, in den Gerichtssälen, in den Polizeistuben, auf den Rettungswachen, in den Spitälern, Waisen- und Armenhäusern, in den Gefängnissen, in den Gemeindestuben.

Für seine Recherchen nimmt er große Strapazen in Kauf, verkleidet sich, wechselt die Identitäten und wird so zum Schöpfer der verdeckten Sozialreportage. Um über die Zustände im Polizei­gefängnis zu berichten, lässt er sich, als Bettler verkleidet, auf der Straße verhaften. Er arbeitet als Statist in der Hofoper, als Kulissenschieber im Burgtheater, als Lohnschreiber in einer Kolportageromanfabrik, übernachtet in einem Obdach­losenheim, recherchiert inkognito bei den schlesischen Webern oder in den Industriegebieten der Steiermark und Böhmens. Seine „Inspektionsreisen“ zu den Fabriken im Böhmerwald unternimmt er zu Fuß. Diese Reportage erscheint im Spätsommer 1908 in einer achtteiligen Serie in der Arbeiter-Zeitung unter dem Titel „Die Blutsauger des Böhmerwaldes – Bilder aus dem Leben der Holzknechte“.  

Das is a elendig's Leben.

Seine bekannteste Reportage wird der 1902 erschienene „Strottgang durch Wiener Kanäle“. Als „Kanalstrotter“ verkleidet, berichtet Winter über das Leben jener bedauernswerten Kreaturen, die in der Wiener Kanalisation Knochen, Fett und andere verwertbare Abfälle sammeln, um diese an die Seifenindustrie oder als Altmetall zu verkaufen. Einige dieser Strotter – aber auch hunderte „gewöhnliche“ Obdachlose – leben sogar in der Kanalisation, wo sie in Gängen, Kammern und Luftschächten ihre „Quartiere“ aufschlagen.

Insgesamt verfasst Winter etwa 1.500 Reportagen, akribisch recherchiert, untermauert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Statistiken, mit Akten und Archivmaterial. Als 1904 eine erste Auswahl seiner Arbeiten unter dem Titel „Im dunkelsten Wien“ in Buchform erscheint, meint Alfred Polgar anerkennend: Der Journalist hat sich sozusagen zum Schriftsteller summiert, aus Journalbeiträgen ist ein Buch geworden. Im Jahr darauf folgen zwei weitere Bände mit Wien-Reportagen: „Das goldene Wiener Herz“ und „Im unterirdischen Wien“. Beide sind Teil der insgesamt 50 Bände umfassenden Reihe „Großstadt-Dokumente“, die der Berliner Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Hans Ostwald zwischen 1904 und 1908 herausgibt – das umfassendste Projekt der Stadtforschung im deutschsprachigen Raum.

Wann wird das Morden ein Ende nehmen?

Während des Ersten Weltkriegs gehört Max Winter zu den entschiedenen Kriegsgegnern innerhalb der Sozialdemokratie. Sein zweibändiges Werk „Der österreichisch-ungarische Krieg in Feldpostbriefen“ ist eine beklemmende Dokumentation der unmenschlichen Alltagsrealität dieses Krieges. Daneben verfasst er Reisereportagen aus dem zerstörten Galizien, berichtet über das Los der in Wien gestrandeten Flüchtlinge, besucht Flüchtlingsunterkünfte und Spitäler, beschreibt das Elend der an Typhus, Cholera und Tuberkulose erkrankten und hungernden Menschen, die skandalösen sanitären Bedingungen, unter denen sie dahinvegetieren müssen.

Sein soziales Engagement führt Max Winter in die Politik. Von 1911 bis 1919 vertritt er die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs im Reichsrat und in der Provisorischen National­versammlung. Bei den ersten Gemeinderatswahlen nach dem Krieg wird er in den Wiener Gemeinderat gewählt und einer von drei Vizebürgermeistern.

Was wollen die Kinderfreunde?

Winters zweite große Liebe gehört den Kinderfreunden. Aus den seit 1908 bestehenden regionalen Kinderfreunde-Vereinen schafft Winter 1917 den landesweiten Reichsverein, dessen Obmann er bis 1930 ist. Im August 1919 requiriert er für die Kinderfreunde Räumlichkeiten im Hauptgebäude des Schlosses Schönbrunn, wo noch im Herbst die Schönbrunner Erzieherschule unter der Leitung von Otto Felix Kanitz sowie ein Kinderheim eingerichtet werden. Der auf seine Initiative eingeführte „Kinderheller“, eine wöchentliche Abgabe der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, ermöglicht den Kinderfreunden eine Intensivierung ihrer Arbeit.

In den Tagen, da die Broschüre: ‚Was wollen die Kinderfreunde?‘ [1918, Anm.] erschien, ließ ich eine solche auf meinem Schreibtisch in der ‚Arbeiter-Zeitung‘ liegen. Als ich am nächsten Tag wieder kam, fand ich auf das Titelblatt der Broschüre […] von einem Kollegen geschrieben das Wort: ‚Schnorren‘.

In der Unzufriedenheit liegt der Fortschritt der Menschheit!

Dem Journalismus bleibt Max Winter weiterhin verbunden. Die von ihm ursprünglich nur für den Wahlkampf 1923 konzipierte Frauenzeitschrift Die Unzufriedene ist so erfolgreich, dass die Partei sie bis zu ihrer vorübergehenden Einstellung im Februar 1934 weiterführt.

1926 initiiert Winter, der im Jahr zuvor Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale geworden war, die „Mühlsteinbüchereien“. Der Name ist eine Reaktion auf ein Pamphlet des Franziskanerpaters Zyrill Fischer, der über die Arbeit der Kinderfreunde einen Vers aus dem Matthäus-Evangelium zitiert hatte: Wer aber einem dieser Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, es würde ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefen des Meeres versenkt. PR-Profi Winter gelingt das, was man heute „Reframing“ nennen würde: Gründet Kinderbüchereien, und nennt sie Mühlstein-Büchereien! Und tatsächlichkönnen mit Hilfe von Spenden österreichweit Bibliotheken für Kinder errichtet werden.

1929 verfasst Max Winter, der zuvor bereits ein Bühnenstück geschrieben hatte, seinen einzigen Roman. „Die lebende Mumie“ handelt von einem Mann, der 1925 in einen Tiefschlaf verfällt und erst 100 Jahre später wieder erwacht – in einem „vereinten Europa“, in einer Welt ohne Hunger, Not und Unterdrückung.

Großvater erzählt

Im Februar 1934, kurz nach dem vergeblichen Kampf der österreichischen Sozialdemokratie gegen den Austrofaschismus, tritt Max Winter eine seit längerem geplante Reise in die Vereinigten Staaten an.

Bei seinen Vorträgen nimmt er sich kein Blatt vor den Mund und nennt Kanzler Dollfuß einen „Arbeiter­mörder“, worauf ihm zum Jahresende wegen „österreich­feindlichen Verhaltens im Ausland“ die Staatsbürgerschaft entzogen wird.

Winter lässt sich in Hollywood nieder und versucht sich relativ erfolglos als Drehbuchautor und Journalist. Mit kleinen journalistischen Beiträgen für europäische Zeitungen und als Märchenerzähler in Kindergärten hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser.

Nach seinem Tod wird die Urne Max Winters nach Wien überführt und im September 1937 am Matzleinsdorfer Evangelischen Friedhof beigesetzt. Die bereits illegale Arbeiter-Zeitung berichtet, dass die Grabrede des früheren Stadtrates Paul Speiser von der Polizei zensuriert wurde. An der Trauerfeier nahmen mehrere hunderte Personen teil, die unmittelbar darnach [sic!] von einem grossen Polizeiaufgebot aus dem Friedhof gedrängt wurden.

Max Winters journalistisches und literarisches Werk wird erst in den 1980er-Jahren wiederentdeckt, sein Schöpfer spät, aber doch als Pionier der Sozialreportage und Vorläufer der modernen Alltagsgeschichte gewürdigt.

1949 wird ein Platz in der Leopoldstadt nach Max Winter benannt. Sein Nachlass befindet sich in der Wienbibliothek im Rathaus.
Literatur
Anton Tesarek (1964): Max Winter. In: Norbert Leser (Hrsg.): Werk und Widerhall. Große Gestalten des österreichischen Sozialismus, Wien 1964; Hannes Haas (2006): Max Winter. Expeditionen ins dunkelste Wien – Meisterwerke der Sozialreportage. 

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