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Aktuelle Seite: „Stimmt an das Lied der hohen Braut…“
0052 | 20. DEZEMBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Stimmt an das Lied der hohen Braut…“

130 Jahre Arbeitergesangsvereine

Die ersten Arbeitergesangs­vereine entstehen in den 1860er-Jahren, meist im Umfeld der Arbeiterbildungsvereine und ihrer Gesangssektionen. Anfangs dienen sie in erster Linie dem Geselligkeitsbedürfnis der Arbeiterschaft.

Politik spielt nur eine unterge­ordnete Rolle, was auch an der „bürgerlichen“ Herkunft der meisten Chorleiter liegt. Primär verfolgen diese Gesangsvereine ein „sozialintegratives“ Ziel die Proletarier an der Hochkultur teilnehmen zu lassen.

Damit halten allerdings auch Vereinsmeierei und traditionelle Bräuche wie der Fahnenkult Eingang in die Arbeiterbewegung, und sogar Gelage im Stil der studentischen Kommers-Saufereien sind an der Tagesordnung. Viele dieser Vereine fallen in den repressiven siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Zensur zum Opfer.

Nach dem Einigungsparteitag von Hainfeld zur Jahreswende 1888/89 kommt es zu zahlreichen Neugründungen. Einer der aktivsten Arbeitergesangsvereine dieser Zeit ist jener der Wiener Buchdrucker, die seit 1890 bestehende „Freie Typographia“, der erste Chor übrigens, bei dem auch Frauen mitwirken dürfen.

Dem gelernten Buchdrucker und Gewerkschaftsfunktionär Karl Höger gelingt es, Josef Scheu, den Komponisten des „Liedes der Arbeit“, als Chormeister zu verpflichten. Scheu hatte bereits 1878 einen ersten deklariert sozialdemokratischen Chor ins Leben gerufen, den „Wiener Arbeitersängerbund“.

Sängerfeste und Liedertafeln

Auf Scheus Initiative hin wird am 20. Dezember 1891 der Verband der Arbeitergesangsvereine Nieder­österreichs als Dachorganisation mehrerer der Sozialdemokratie nahestehender Chöre gegründet. Binnen weniger Monate treten 21 Vereine dem Verband bei. Wichtigstes Ziel sei es, durch Abhaltung gemeinsamer Sängerfeste und Liedertafeln das Interesse der Arbeiterschaft für den Arbeitergesang zu wecken. Im September 1892 hält der Verband sein erstes Bundesfest ab. Die Chöre singen neben Freiheitsliedern auch Werke von Richard Wagner und Carl Maria von Weber. 

Allerdings müssen die gesungenen Texte vor ihrer Aufführung regelmäßig der Zensur vorgelegt werden, die nicht selten mit Verboten agiert. 1892 etwa darf die Freie Typographia von 22 „Freiheitschören“ zehn nicht singen, und noch 1896 beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft das Programm und die Liedtexte der am 9. August stattfindenden Sommerliedertafel des Arbeitergesangsvereines, weil der Inhalt der in demselben enthaltenen Gedichte mit den Aufschriften: 1.) ,Bet’ und arbeit’!‘ 2.) ,Die Arbeit!‘ geeignet erscheint, den Thatbestand des Vergehens nach dem Preßgesetz zu erfüllen.

Auch in unserem Leben spielt die Erkenntnis des socialen Kampfes die entscheidende Rolle.  [...] genau so wie die Bewegung der socialen Verhältnisse das Product des Kampfes der Klassen ist, muß sich die Ästhetik darstellen als Product des Kampfes der idealistischen mit der materialistischen Weltanschauung [...].Schönberg in einem Brief an Bach    

Neben Josef Scheu, nach Ansicht Karl Renners  einer der ersten Künstler des Proletariats, wirkt in den 1890er-Jahren auch Arnold Schönberg im Verband der Arbeitersänger mit.

David Josef Bach, der 1905 die „Arbeiter-Sinfonie-Konzerte“ initiiert und ab 1919 der „Kunststelle der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei Österreichs“ vorsteht, lernt den jungen Musiker 1891 kennen: Vor dem ,Ersten Kaffeehaus‘ im Prater in der Hauptallee stand mit anderen jungen Zaungästen ein junger Bursch [...], sprach laut von der Musik und über sie, die aus dem  Gartenpavillon herüberscholl. [...]. Für die allermeisten unter uns war es die einzige Möglichkeit, ein bißchen Musik wirklich zu hören [...]. Wir waren arme Hunde, aber jung, lebenshungrig und zukunftssicher. Schönberg und ich kamen einander näher; 1893 waren wir schon Freunde.

Geistige Befreiung, sittliche Erhebung und Veredlung der Menschheit

1901 wird der Reichsverband der Arbeitergesangsvereine Österreichs gegründet, der wenige Jahre später bereits 130 Mitgliedsvereine mit über 4.000 Mitgliedern in Wien und Niederösterreich, Böhmen, Mähren und Schlesien, der Steiermark, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg zählt. Ab 1902 erscheint die Arbeitersänger-Zeitung als Vereinsorgan. „Verantwortlicher Redacteur“ ist der erste Bundes­chorleiter Josef Scheu. Die Zeitschrift soll nach Scheus Worten nicht nur den Sängern und Vereinen, sondern auch den nicht singenden Parteigenossen, der Parteileitung und der Parteipresse die Ziele und Aufgaben der Arbeiter-Gesangvereine darlegen. Deren Hauptaufgabe sei es, durch unseren Gesang mit beizutragen zur geistigen Befreiung, sittlichen Erhebung und Veredlung der Menschheit, sowie dazu, daß Mensch dem Menschen überall ein Bruder sei!

Nach dem Ersten Weltkrieg, der auch für die Arbeitersänger einen schmerzlichen Aderlass bedeutet, wachsen die Vereins- und Mitgliederzahlen rasch wieder an. 1922 zählt der Reichsverband über 339 Vereine mit fast 12.000 Mitgliedern, davon 3.000 in Wien.

1919 gründet David Josef Bach die Kunststelle der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei Österreichs, die vor allem volksbildnerische Ziele verfolgt. 1925 tritt der Singverein der sozialdemokratischen Kunststelle, dessen künstlerischer Leiter der Schönberg-Schüler und Dirigent Anton Webern ist, dem Verband bei. Im Jahr darauf erfolgt die Umbenennung in Österreichischer Arbeiter-Sängerbund (ÖASB). Anton Webern avanciert bald zum Haupt­dirigenten der populären „Arbeiter-Sinfonie-Konzerte“.

Der Konzertsaal für den Arbeiter!

Die Werke der großen und größten Tondichter sollen den Arbeitern vermittelt werden – durch Arbeiter! Das Recht, Musik zu treiben, war bisher eine Art Herrenrecht [...]. Den befrackten Herren der bürgerlichen Gesangvereine gelang es kaum jemals, mit ihrem Publikum in Kontakt zu kommen –: Arbeiter auf dem Podium, Arbeiter im Saale – es ist eine Lust zu musizieren!  Der Konzertsaal für den Arbeiter! (David Josef Bach)

Kunst und Kultur als Kampfmittel

1926 fordert der Schönberg-Schüler Josef Polnauer ein „festumrissenes Arbeits- und Bildungsprogramm“: Die Arbeitersängerschaft hat nämlich keine geringere Aufgabe vor sich, als auch ihrerseits den Bürgerlichen die Herrschaft zu entreißen. Sie muß ihnen die Vermittlung ernster Kunst entwinden, die bisher fast zur Gänze der Bourgeoisie überlassen war, indem sie diese Vermittlung – die aktive Kunstpflege – selbst übernimmt.  

Einen Höhepunkt der Vereins­tätigkeit in der Ersten Republik stellt die Massenkundgebung der Arbeitersänger anlässlich der Feier „60 Jahre Lied der Arbeit“ am 5. August 1928 auf der Jesuitenwiese im Prater dar, an der 102 Vereine und über 5.000 Sänger und Sängerinnen teilnehmen.

Der letzte Vorhang

Das Fest zum vierzigjährigen Bestehen des Arbeitersänger­bunds Alsergrund am 8. Oktober 1933 im Wiener Praterstadion sollte übrigens die letzte öffentliche Großveranstaltung der Sozialdemokraten im Roten Wien werden. 60.000 Personen versammeln sich, darunter der gesamte Parteivorstand sowie eine Delegation des internationalen Gewerkschaftsbundes. In seiner Festansprache verteidigt der Wiener Bürgermeister Karl Seitz die Errungenschaften der Demokratie und die vom „Gau Wien“ gesungenen Freiheitschöre legen „ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Sozialismus“ ab.

Die rechte Regierung nützt diese Gelegenheit, um die Arbeiter-Zeitung wegen des Abdrucks der Festrede des Bürgermeisters zu konfiszieren und eine Verbreitungs­beschränkung über das Blatt zu verhängen. Die Zeitung darf fortan nicht mehr in Trafiken oder auf der Straße verkauft, sondern nur noch per Post zugestellt werden.

Der Arbeitersängerbund Alsergrund aber wird unter der Anschuldigung, die vereinsbehördlich genehmigte Tätigkeit überschritten zu haben, aufgelöst, sein Vermögen eingezogen. Es ist das erste Verbot einer sozialdemokratischen Kulturorganisation durch die autoritäre Regierung.

Am 11. Februar 1934 findet im Wiener Konzerthaus das letzte Arbeiter-Sinfonie-Konzert statt, u.a. mit Werken von Hanns Eisler, der bereits im dänischen Exil weilt, und Paul Amadeus Pisk, der 1936 in die USA auswandern wird.

Nach den Februarkämpfen wird der ÖASB aufgelöst; Vereinsvermögen, Noten und Musikinstrumente werden beschlagnahmt und christlich-sozialen Organisationen übergeben, das „Lied der Arbeit“ wird verboten.

Der ÖASB wird 1946 neu gegründet. 1994 umfasst der Bund 125 Vereine mit 2.960 Sängern, aktuell sind mehr als 90 Vereine und über 2.000 aktive Mitglieder. Seit 2004 eröffnet der Wiener Arbeitersängerbund den alljährlich am 12. Februar im Rabenhoftheater stattfindenden Protestsongcontest.

Literatur
Helmut Brenner, Stimmt an das Lied, 1986; Hartmut Krones, 120 Jahre Wiener Arbeitersängerbund.

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