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Aktuelle Seite: „… und jüdisch“. Zum 20. Todestag von Marie Jahoda
0016 | 28. April 2021    Text: Lilli Bauer & Werner T. Bauer

„… und jüdisch“.

Zum 20. Todestag von Marie Jahoda


Am 28. April 2001 stirbt im englischen Sussex eine der brillantesten Frauen des Roten Wien.

Marie Jahoda kommt 1907 in einem gutbürgerlichen, assimilierten jüdischen Elternhaus zur Welt. Ihr Vater Carl Jahoda ist Kaufmann, ihr Onkel Georg Druckereibesitzer und Verleger. Die Druckerei „Jahoda & Siegel“ bringt ab 1901 auch Die Fackel von Karl Kraus heraus.

Kein Wunder, daß Karl Kraus auch unser Familiengott wurde.
Marie Jahoda

1919 nimmt Mitzi Jahoda, wie sie sich auch selbst nennt, an einer koedukativen Sommerkolonie teil; hier lernt sie den um sechs Jahre älteren Paul Felix Lazarsfeld kennen – eine schicksalhafte Begegnung:
Oh, er war ein außerordentlich interessanter Mensch, sehr stimulierend, sehr an allem interessiert, was ich gemacht habe […] Und er war in der sozialistischen Jugendbewegung die angesehenste Figur.

Gerechte Bildungschancen als Lebensthema

1924 schließt sich Marie Jahoda der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler in Wien an, wird 1925 deren Obfrau und 1926 Sekretärin des österreichischen Dach­verbandes. Engagiert tourt sie durch die Sektionen der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei in Wien und hält Vorträge über „Sozialismus und Klassenkampf“, „Das Abc der Weltpolitik“ oder „Bub und Mädel in der Organisation“. Man hat nicht nur über politische Dinge gesprochen, sondern über alles, da man sich arroganterweise kompetent gefühlt hat, den zwei, drei Jahre Jüngeren zu sagen, was das Leben bedeutet.

Noch als Maturantin protestiert sie energisch gegen die Entscheidung des Wiener Jugendamtes – und damit auch gegen Julius Tandler –, die koedukativen Sommerkolonien finanziell nicht mehr zu unterstützen.
Wir kennen alle diese Großstadtkinder mit den bleichen Wangen und ihren unruhigen Augen; vom 14. Lebensjahre an ungefähr beginnen sie den schweren Kampf: Sie müssen sich die zweigeschlechtliche Menschenwelt erobern, erkämpfen. 14 Jahre haben genügt, ihnen das Natürlichste unnatürlich erscheinen zu lassen.

Da in ihrem Elternhaus auch die höhere Bildung der Töchter gefördert wird, kann Marie den Lehrerbildungskurs des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien besuchen und gleichzeitig an der Universität Wien bei Karl Bühler Psychologie studieren.

Die angesehenste Figur in der sozialistischen Jugendbewegung

Gegen den Willen ihres Vaters, der in Paul Felix Lazarsfeld vor allem den „Hallodri“ (Christian Fleck) sieht, heiratet das Paar im Oktober 1927. Die Beziehung zu dem notorischen Schürzenjäger entpuppt sich allerdings als schwierig. Marie Jahoda-Lazarsfeld unterbricht ihr Studium und nimmt sich ein Jahr „Auszeit“ in Paris.

Zurück in Wien, bezieht die beiden 1929 eine Wohnung im neu errichteten Karl-Marx-Hof; Marie engagiert sich ehrenamtlich in der ansässigen Arbeiterbücherei. 1930 kommt Tochter Lotte zur Welt.

Wir hatten ein Wohnzimmer, ein kleines Schlafzimmer, eine kleine Küche, eine Dusche und einen Balkon. […] Es gab auch eine hauptsächlich von Ehrenamtlichen betreute zentrale Leihbibliothek. Ich war an zwei Abenden in der Woche dort, gab Bücher aus, empfahl Bücher, die ich lesenswert fand, schloß Freundschaften und gewann Parteimitglieder.
Das Eheglück bleibt bescheiden. 1930 veröffentlicht Mitzi Jahoda in der Arbeiter-Zeitung ein Gedicht, das vielleicht Aufschluss über ihre Gemütslage gibt.

Wir Frauen von heute.

Wir Frauen von heute sind lebensfroh
und lassen die Alten sich grämen.
Wir zeigen den andern: es geht auch so!
Man braucht sich nicht mehr zu schämen.

Wir Frauen von heute sind arbeitsgewohnt
und nehmen, wie’s kommt, das Leben.
Was nützt es schließlich, wenn man sich schont?
Dann lebt man nicht ganz, nur daneben.

Wir Frauen von heute gehen doch
auf die Straße, auch wenn es regnet.
Nur leider sind wir allzuoft noch
Männern von gestern begegnet.

Als Mädchen kennt man weder Kummer noch Sorgen.

Für ihre Dissertation interviewt Marie Jahoda 1931 Bewohnerinnen und Bewohner von Wiener Versorgungshäusern und gibt uns damit Einblicke in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der „kleinen Leute“, ihrer oft harten Kindheit, ihrem lebenslangen Kampf ums tägliche Brot und ihren Freuden an den kleinen Dingen des Lebens. Marie Jahoda ist bemüht, ihre politischen Überzeugungen in ihre wissenschaftliche Arbeit einfließen zu lassen. Diese „einfachen Menschen“ zu interviewen stellt sie vor Herausforderungen: Ich hatte eigentlich in allen Fällen den bestimmten Eindruck, bewusste Unrichtigkeiten immer als solche erkennen zu können. Ausgesetzt bleibt man freilich immer den unbewussten Unrichtigkeiten, den Lebenslügen.

F 6. Geboren 1857 in Mähren. […]
Sie hat meistens einen guten Humor gehabt, nur dass sie ins Versorgungshaus musste, kann sie nicht verwinden. Sie schlägt deshalb ihrem Mann vor, sich gemeinsam umzubringen, er lacht sie aber aus.

F 16. Geboren 1854 in Ungarn. […]
Auf Fragen antwortet sie: Die schönste Zeit ihres Lebens war, solange sie nicht verheiratet war. Als Mädchen kennt man weder Kummer noch Sorgen.

Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.

In diese Zeit fällt auch Marie Jahodas Mitarbeit in der Österreichischen Wirtschafts­psychologischen Forschungsstelle (ÖWF) und im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum von Otto Neurath.

Wir sind aufgewachsen in dieser kritischen guten österreichischen sozialdemokratischen Periode, in der Überzeugung, daß wir einen demokratischen, nicht gewalttätigen Umbruch der Gesellschaft herbeibringen würden. […] Ich war zu der Zeit komplett überzeugt, daß ich einmal sozialistischer Erziehungsminister in Österreich werden würde. Keine Frage!

Die Arbeitslosen von Marienthal

Paul Felix Lazarsfeld hatte die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle 1931 mit dem Ziel gegründet, marktanalytische Untersuchungen durchzuführen. Auftraggeber sind renommierte Unternehmen wie die Anker­brotwerke, die Schuhfirmen Bally und Delka oder die Wäscherei Habsburg. Die ÖWF ist aber auch Projektträgerin der bahnbrechenden Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“.

Durchgeführt wird die Untersuchung über die Auswirkungen langanhaltender Arbeitslosigkeit von einem 15 Personen umfassenden Team. Wegweisend an der Marienthal-Studie ist die Kombination der angewandten Methoden, von denen viele erst im Laufe der Erhebungen entwickelt werden. Das Forscherteam erstellt Statistiken, misst Gehgeschwindigkeiten, führt Befragungen durch und notiert Lebensläufe.

Die Feldforschung dauert bis 1932; in diesem Jahr trennt sich Marie Jahoda endgültig von ihrem Mann. Mit dem ausgewerteten Material zieht sie sich im Sommer „in die Berge“ zurück und verfasst innerhalb weniger Wochen den Haupttext.

Die Studie erscheint im Sommer 1933 in einem Leipziger Verlag. Für einen durchschlagenden Erfolg ist es bereits zu spät – seit Beginn des Jahres regieren in Deutschland die Nationalsozialisten.

Die Antwort von Marienthal war eindeutig: Arbeitslosigkeit bringt Resignation. Als Hitler mit Gulasch­küchen und Arbeitsversprechen einmarschierte, haben die Marienthaler ihn akzeptiert, trotz ihrer sozialdemokratischen Vergangenheit.

Im Widerstand

Auch in Österreich wird es für linke Intellektuelle zunehmend schwieriger. Paul Felix Lazarsfeld weilt seit dem Herbst 1933 als Stipendiat in den USA, und so übernimmt Marie Jahoda, gemeinsam mit Gertrude Wagner, die wissenschaftliche Leitung der Forschungsstelle.

1935 löst sich die ÖWF auf; auf Jahodas Initiative hin wird die „Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ gegründet. Ihre Räumlichkeiten sind regelmäßiger Treffpunkt der illegalen Revolutionären Sozialisten. Aufgrund einer Denunziation wird Marie Jahoda im November 1936 verhaftet und zu drei Monaten Kerker verurteilt. Die Forschungsstelle wird 1937 endgültig geschlossen.

Unter dem austrofaschistischen Regime waren die Wiener Gefängnisse nur Gefängnisse […]. Ihr bei weitem übelstes physisches Merkmal waren die schauderhaften hygienischen Zustände. Würmer in der Erbsensuppe, Wanzen zu Tausenden.

Eine internationale Karriere

Im Juli 1937 wird Marie Jahoda unter der Bedingung enthaftet, Österreich umgehend zu verlassen. Sie emigriert zunächst nach England, wo sie – u.a. gemeinsam mit Stefan Wirlandner – eine Radiosendung des British Foreign Office für Österreich gestaltet.

Nach Kriegsende übersiedelt Marie Jahoda in die USA und wird Professorin für Psychologie an der New York University. 1958 kehrt sie nach London zurück, heiratet den britischen Labour-Politiker Austen Harry Albu und baut ab 1965 in Sussex das erste Department of Social Psychology in Großbritannien auf.

In seinem Porträt der Sozial­wissenschaftlerin beschreibt Christian Fleck, wie Marie Jahoda im Rahmen eines Selbstversuchs einen gängigen Test anwandte, um sich über dessen Tauglichkeit klar zu werden: Bei dieser der Persönlichkeitspsychologie entlehnten Erfassung der persönlichen Identität geht es darum, fünf Sätze zu vervollständigen, die mit „Ich bin…“ beginnen. Es sei ihr, schrieb sie, leicht gefallen zu sagen: Frau, Mutter, Sozialpsychologin, dann habe sie schon nachzudenken beginnen müssen und sich für Flüchtling und agnostisch entschieden, um darüber entsetzt zu sein, dass sie „ich bin jüdisch“ vergessen habe.

Literatur
Marie Jahoda, Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich, In: Zeitgeschichte 8/4, 1981:133-141
Marie Jahoda, „Ich habe die Welt nicht verändert.“ Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Weinheim 2002
Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hrsg.) Marie Jahoda, Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930, Dissertation 1932, 2017
Wiener Zeitung, 12. Juli 1985

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Sonderausstellung im Waschsalon 2013/14

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