Vor 150 Jahren gelangt erstmals in einer Millionenstadt das Proletariat an die Macht – und hält sich dort für 72 Tage … Die Pariser Kommune beginnt mit einer Exekution – und endet in einem Blutbad.
Am 18. März 1871 werden zwei regierungstreue Offiziere von Angehörigen der Pariser Nationalgarde erschossen. Sie hatten versucht, Kanonen, die am Montmartre-Hügel stationiert waren, abtransportieren zu lassen.
Die konservative Regierung von Adolphe Thiers, die das unruhige Paris bereits in Richtung Versailles verlassen hat, zieht nun auch ihre Truppen und einen Großteil der Beamtenschaft aus der Stadt ab. Währenddessen nimmt der Hauptausschuss der Kommune das Pariser Rathaus in Beschlag; auch Polizeiposten und Ministerien werden besetzt.
Die Pariser Kommune wird die Stadt 72 Tage lang nach sozialistischen Vorstellungen regieren.
Im April erlässt der Rat der Kommune ein Dekret, wonach alle Betriebe, deren Eigentümer aus der Stadt geflohen sind, an Arbeiterkooperativen zu vergeben sind. Die tägliche Arbeitszeit wird auf zehn Stunden begrenzt, Maßnahmen gegen die Schwarzarbeit werden erlassen. Der Rat legt Mindestlöhne fest und verbietet willkürliche Lohnabzüge. Geradezu revolutionär sind erste Ansätze einer betrieblichen Selbstverwaltung: Alle 15 Tage wird in den Betrieben ein Leitungsrat gewählt.
Die sozialen Maßnahmen der Kommune umfassen unter anderem ein Dekret, das rückwirkend alle ausständigen Mieten erlässt. Verpfändete Gegenstände, insbesondere „Kleidungsstücke, Möbel, Wäsche, Bücher, Bettzeug und Arbeitswerkzeuge“, müssen ihren Eigentümern rückerstattet werden. Verwundete Verteidiger von Paris sowie die Witwen und Waisen gefallener Nationalgardisten erhalten eine Pension, verlassene oder leerstehende Wohnungen werden an die Opfer der feindlichen Bombardements vergeben, Waisenhäuser gegründet.
Da auch zahlreiche Beamte die Stadt verlassen haben, ist der Verwaltungsapparat bald völlig gelähmt; viele Reformprojekte können deshalb nicht umgesetzt werden. Dennoch: Die Prostitution wird verboten, die „freie Ehe“ eingeführt, uneheliche Kinder werden legitimiert. Für die Bedürftigsten werden Gemeindeküchen und öffentliche Ausspeisungen eingerichtet. Notariatsakte wie Testamente oder Heiratsverträge sind forthin kostenlos.
Am radikalsten sind die Maßnahmen der Kommune im Bereich der Religion. Religiöse Symbole werden aus den Schulklassen verbannt, der Religionsunterricht wird untersagt. Die Verstaatlichung der religiösen Stiftungen sowie die Säkularisierung der Bildungs- und Krankenpflegeeinrichtungen führen allerdings bald zu Problemen in der Krankenversorgung, die großteils in den Händen von Ordensschwestern lag.
Radikale Zeitungen schießen bald wie Pilze aus dem Boden. Pressefreiheit bedeutet allerdings auch, dass oppositionelle Blätter weiterhin erscheinen können. Nachdem viele von ihnen die Tagesbefehle der Regierung aus Versailles verbreiten, reagiert die Kommune mit wenig effektiven Verboten; die meisten Zeitungen erscheinen kurz darauf unter anderen Namen. Umgekehrt jedoch können prokommunardische Blätter außerhalb von Paris nicht vertrieben werden.
Weitere Maßnahmen der Kommune sind vor allem symbolischer Natur, wie etwa die Zerstörung der Guillotine oder der Abriss der napoleonischen Vendôme-Säule. Die rote Fahne wird zur offiziellen Fahne der Kommune erklärt und ab dem 3. April gilt in Anknüpfung an den republikanischen Kalender der Revolution von 1789 eine neue Zeitrechnung: Man schreibt den 13. Germinal 79 der Republik. Im täglichen Leben bürgern sich die Anrede Citoyen (Bürger) sowie der Gruß Salut et fraternité (Heil und Brüderlichkeit) ein. Und: Die Kommune wandelt den Louvre mit den privaten Kunstsammlungen der Könige von Frankreich in ein Kunstmuseum um, sie öffnet die Oper, organisiert Konzerte und Spiele für die Bevölkerung.
Alle Versuche, den Aufstand der Kommune in andere französische Städte zu exportieren, scheitern. Paris bleibt isoliert. In der Theorie verfügt die Kommune zwar über 190.000 Soldaten, mangels Ausbildung und Disziplin sind diese Truppen jedoch völlig unbrauchbar.
Bereits am 3. April endet der „Spaziergang nach Versailles“ genannte Versuch, den Sitz von Regierung und Parlament zu erobern, in einem militärischen Fiasko. Der Vorstoß von insgesamt 40.000 Mann bricht im Feuer des Forts am Mont Valérien zusammen. Die Armee der Kommune hatte es verabsäumt, diese strategisch wichtige Position rechtzeitig zu besetzen. Die Verantwortlichen dieses militärischen Abenteuers werden getötet, 1.500 Föderierte als Gefangene nach Versailles gebracht.
Zug um Zug gelingt es der Regierung nun, die Vororte der Stadt zurückzuerobern. Diese militärischen Misserfolge stärken die „Radikalen“ im Pariser Gemeinderat. Es kommt zu immer häufigeren Wechseln im Führungsapparat der Kommune; Rücktritte, aber auch Verhaftungen von vermeintlichen „Verrätern“ stehen bald auf der Tagesordnung.
Am 21. Mai dringen Regierungstruppen durch die von der Wache verlassene Porte de Saint-Cloud in den Westen der Stadt vor. La Semaine sanglante, die „Blutwoche“ vom 21. bis zum 28. Mai, bezeichnet die letzte Episode der Kommune – ein Gemetzel historischen Ausmaßes. Während die Regierungstruppen immer weiter vorrücken, ist eine zweite Kampflinie damit beschäftigt, Häuser und Keller nach verdächtigen Personen zu durchkämmen. Schnellgerichte sollen den massenhaften Exekutionen, denen auch Zivilisten zum Opfer fallen, einen Anschein von Legitimität verleihen.
Die Führung der Kommune holt zu einem verzweifelten Gegenschlag aus und befiehlt das systematische Niederbrennen öffentlicher Gebäude sowie die Hinrichtung von Geiseln, unter denen sich neben anderen Geistlichen auch der Erzbischof von Paris befindet. In den folgenden Tagen werden das Palais du Louvre und das Palais Royal, das Rathaus, die Polizeipräfektur, das Zolllager und das Finanzministerium, die Paläste des Staatsrates und der Ehrenlegion, der Justizpalast sowie das Palais des Tuileries und mehrere Theater ein Raub der Flammen.
Letzte Kämpfer der Kommune verschanzen sich am Friedhof Père Lachaise im Osten der Stadt. 147 von ihnen werden am 28. Mai an der südlichen Friedhofsmauer füsilliert.
Zeitzeugen wie der Journalist Prosper-Olivier Lissagaray schätzen die Zahl der in der letzten Maiwoche Exekutierten auf 20.000 bis 30.000. Die Schäden, die die Kämpfe im Stadtbild hinterlassen, sind gewaltig. Die gefangen genommenen Kommunarden – insgesamt über 40.000 Personen – werden von Schnellgerichten abgeurteilt oder in ein Lager bei Versailles gebracht, wo sie auf ihre Prozesse warten.
Der große Schauprozess gegen die Mitglieder des Rates und des Zentralkomitees der Nationalgarde beginnt am 7. August 1871, doch die Kriegsgerichte der Sieger werden noch vier Jahre lang tätig sein und insgesamt 10.137 Verurteilungen aussprechen, davon 118 zum Tode und 4.586 zur Deportation nach Neukaledonien.
Erst 1880 wird das französische Parlament ein Amnestiegesetz beschließen. Damit können nicht nur die Deportierten, sondern auch die letzten ins Ausland geflohenen Kommunarden in ihre Heimat zurückkehren.
Kaum ein anderes Ereignis hat im Verhältnis zu seiner geringen Dauer eine so große Aufmerksamkeit erfahren, wie die Pariser Kommune. Und nur wenige Ereignisse haben sowohl Zeitgenossen als auch Nachbetrachter so sehr gespalten. Von ihren Gegnern werden die Kommunarden bereits zu Lebzeiten als ein Haufen undisziplinierter, dem Alkohol zugetaner Männer diffamiert, von denen die meisten nicht wüssten, wofür sie eigentlich kämpften.
Was die Pariser Kommune wollte, das verwirklicht die Wiener Kommune.
Ganz anders die Linke, wo viele – ob Marxisten, Radikale oder auch Anarchisten –die Kommune als Muster einer Rätedemokratie ansehen. Die Kommune gilt fortan auch anderen Revolutionen, wie zum Beispiel der Russischen oder der Spanischen, als Vorbild.
Karl Marx, der dem Experiment der Kommune wegen der Dominanz konkurrierender sozialistischer Strömungen und wegen seiner grundsätzlichen Ablehnung gewaltsamer und spontaner Aufstände eher skeptisch gegenüberstand, würdigt sie nur im Nachhinein wegen ihrer symbolischen Bedeutung. Es ist Friedrich Engels, der die Pariser Kommune 1891 in seiner Einleitung zum „Bürgerkrieg“ endgültig zum Mythos erhebt: Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht Euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.
Auch das Rote Wien beruft sich gerne auf die Kommune. 1927 zieht Karl Kautsky in der Arbeiter-Zeitung sogar den direkten Vergleich: Was die Pariser Kommune wollte, das verwirklicht die Wiener Kommune.
Was bleibt 150 Jahre, zwei Weltkriege und viele Jahrzehnte dramatisch gescheiterter realsozialistischer Experimente später, von der Pariser Kommune? Die vielleicht treffendste Würdigung stammt aus der Feder des französischen Historikers Alain Gouttman. Die Kommunarden, so schreibt er in seinem Werk La Grande Défaite1870–1871 (Die große Niederlage), hätten sich zwar allesamt als überaus mittelmäßig erwiesen, doch im kollektiven Gedächtnis verkörperten sie etwas Großartiges, vielleicht sogar das Allergrößte, nämlich die Idee einer Gesellschaft, in der das Recht, die Gleichheit und die Freiheit nicht mehr nur sinnentleerte Wörter wären. Eine Utopie? Eine große Hoffnung jedenfalls, die sie bei weitem überstieg...
Buchtipps
Thankmar von Münchhausen: 72 Tage. Die Pariser Kommune 1871 – die erste „Diktatur des Proletariats“, München 2015
Louise Michel, Die Pariser Commune. Aus dem Französischen von Veronika Berger, 2020