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Aktuelle Seite: Von der Kinder- zur Volkshilfe
0064 | 26. APRIL 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Von der Kinder- zur Volkshilfe

Bereits während des Ersten Weltkriegs organisieren engagierte sozialdemokratische Frauen Ausspeisungen und Land­aufenthalte für hungernde Wiener Kinder. Nach Kriegsende gilt es zunächst, die vor allem aus den Vereinigten Staaten kommenden Hilfsleistungen sowie die Verschickung von Kindern aus Wien und anderen Bundesländern zu Erholungsaufenthalten ins Ausland – in erster Linie in die nicht vom Krieg betroffene Schweiz und nach Skandinavien – zu koordinieren.

Durch den Krieg ist fast keine Familie vom Unglück verschont geblieben, Rat und Hilfe wird jeder Art wird allerorts verlangt.Arbeiterinnen-Zeitung, 1921

Aus der Bündelung dieser unterschiedlichen Initiativen konstituiert sich 1921 die Societas – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Fürsorgetätigkeit der Gemeinde Wien: Die Arbeit, die in den dem Verband „Societas“ angeschlossenen Vereinen geleistet wird, geschieht in dem Bewußtsein, Menschen, die sich nicht selbst helfen können, auf Kosten der Gesamtheit helfen zu wollen, schreibt die Arbeiterinnen-Zeitung am 6. September 1921.

Beispiel: Eine Witwe mit mehreren Kindern ist durch Krankheit und Arbeitslosigkeit in große Not geraten. Ihr muß geholfen werden durch einen Beitrag aus Gemeindemitteln, durch das Armenamt, die Kinder werden durch Auslandsaktionen bekleidet und beschuht.

Parteipolitik in der Fürsorge

Die amerikanische Kinder­ausspeisung endet 1922, nicht so das Elend vieler Wiener Kinder. Durch die Trennung Wiens von Niederösterreich gelangen einige am Stadtrand gelegene Tages­erholungsstätten in den Besitz der Gemeinde, die das Heim in Pötzleinsdorf der Societas überträgt. In der Gemeinderatssitzung vom 28. April 1922 beantragt Stadtrat Siegel für die Umgestaltung dieser Tagesheimstätte einen Kredit von 11 Millionen Kronen – inflations­bedingt keine besonders große Summe, aber immerhin genug, um von den Christlichsozialen als „offenkundige Protektion“skandalisiert zu werden.

In den waldigen Hügeln des Wienerwaldes

Das umgestaltete Kinderheim des Wiener Jugendhilfswerks in Pötzleinsdorf, das nun von der Societas als Heim mit „Tag- und Nachtbetrieb“ geführt wird, kann am 12. Juli 1922 wiedereröffnen.

Den Kindern ist die Straßenbahnfahrt und der Weg von und zur Stadt morgens und abends erspart und sie können die Nacht in zwei geräumigen, offenen Baracken, die aber auch geschlossen werden können, in der köstlichen, würzigen Nachtluft verbringen […]. Das Wesentliche jedoch an dem neuen Betrieb ist die Loslösung von der Auslandshilfe, auf die die private und öffentliche Fürsorgearbeit seit dem Kriegsende angewiesen war, schreibt die Arbeiter-Zeitung vom 14. Juli.

Zur Polemik, ob nun die christliche Caritas oder die sozialdemo­kratische Societas bevorzugt werde, meint Stadtrat Julius Tandler in der Budgetdebatte vom 19. Dezember 1923: Der so viel erwähnte und angeblich von der Gemeinde bekämpfte Charitasverband [sic!] hat nicht weniger als vier schöne Gemeindehäuser zur Verfügung, was bei der Societas nicht der Fall ist. Es könnten also die Vertreter der Societas mit viel mehr Recht sich darüber beschweren, daß sie von der Gemeinde schlecht behandelt werden.

Auch das Streben des Verbandes „Societas“ gehört mit zu den Kulturbestrebungen des Proletariats. Auch hier wird nach Formen gerungen, das Leben des Proletariats mit höheren Werten zu durchsetzen und an Stelle der bürgerlichen Wohltätigkeit sozialistische Hilfsbereitschaft zu rücken. Die Unzufriedene, 27. Februar 1926

Infektionskrankheiten und Gewichtszunahme

Im Jahr 1927 berichtet die langjährige Leiterin der Societas, Gemeinderätin Marie Bock, dass im Sommer fortwährend Infektions­krankheiten in die Heime eingeschleppt worden waren. Es blieb nichts weiter übrig, als die Kinder auf 20 bis 30 Schritte Entfernung an den Eltern vorüberzuführen, so daß die Angehörigen sich von dem Wohnbefinden des eigenen Kindes überzeugen konnten. Dennoch hätten viele Eltern versucht, heimlich mit ihren Kindern in Kontakt zu treten. Solange die Bevölkerung so wenig Einsicht und Verständnis zeigt, wird es immer schwer sein, eine Einschleppung infektiöser Kinderkrankheiten zu vermeiden.

Als Erfolg könne hingegen die Gewichtszunahme der Kinder verbucht werden. In den Heimen in Jedlesee, Pötzleinsdorf, Sievering, Schwadorf, Seeboden, Mauer und dem italienischen Cesenatico seien in diesem Jahr insgesamt 2.094 Kinder betreut worden. Dabei lasse sich eine durchschnittliche Gewichtszunahme der Kinder von 1,71 bis 2,56 Kilogramm registrieren. Das Rennen bei der „Höchstgewichtzunahme“ macht übrigens Italien mit stolzen acht Kilogramm.

Rette dein Kind!

Während der Jahre großer Arbeits­losigkeit gilt das Hauptaugenmerk der Organisation vor allem den „Ausgesteuerten“ und deren Familien. 1932 werden die Eltern erholungsbedürftiger, unterernährter und lungenschwacher Kinder aufgefordert, ihre Kinder während der Sommermonate auf Erholung zu schicken. Die Unzufriedene wirbt mit ständiger ärztlicher Aufsicht, fünf reichlichen Mahlzeiten und mäßigen Verpflegungskosten. Die Heime befinden sich im Ostseebad Brodten-Travemünde, im dalmatinischen Kaštel Novi, in Seebach am Millstätter See, in Schloss Liechtenstein (Neulengbach), in Gspöttgraben (Sievering) und in Pötzleinsdorf. Krankenkassenzuschüsse werden vom Verband Societas erwirkt.

Bitten von Frau zu Frau. Gebrauchte Kleider, Schuhe, Wäsche und andere Gebrauchsgegenstände erbittet der Fürsorgeverein „Societas“, Wien 5, Rechte Wienzeile Nr. 107. Die Gegenstände werden gern vom Verein abgeholt.Die Unzufriedene, 19. März 1933

Der Verband Societas verleiht auch „Krankenfahrstühle“ und organisiert Weihnachtsausstellungen, bei denen „arme Heimarbeiterinnen“ kunstgewerbliche Handarbeiten verkaufen können. Und über sozialdemokratische Medien ruft die Societas unter dem Namen „Brockensammlung“ regelmäßig zu Sachspenden auf. Da diese Gegenstände, gereinigt und hergerichtet, an Notleidende weitergegeben werden, kann auch die kleinste Spende Hilfe bringen.

Immer sind es die Frauen

1934 wird auch die Societas verboten. Noch im selben Jahr gründen die illegalen Revolutionären Sozialisten (RS) die Sozialistische Arbeiterhilfe (SAH).

Die SAH, die sich auch als Gegenpart zur kommunistischen „Roten Hilfe“ versteht, konzentriert ihre Tätigkeit nun auf die Unterstützung von politisch Verfolgten und deren Familien, versorgt diese mit Geld, Lebensmitteln und Kleidung. Anfangs kommt über die Tschecho­slowakei und die Schweiz auch noch Unterstützung aus dem demokratischen Ausland.

Wieder sind es vor allem die Frauen, die sich engagieren. Leiterin ist die frühere Vorsitzende des gewerkschaftlichen Frauenreferats Wilhelmine Moik. In einem im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes erhaltenen Bericht über die Weihnachts- und Winteraktion der SAH im Jahr 1935 heißt es: An 43 Inhaftierte wurden an außerordentlicher Weihnachts­unterstützung insgesamt 1.055 S in bar ausbezahlt. Außerdem wurden an die Genossen im Kerker 48 neue gestrickte Pullover, 2 Paar neue und 6 Paar gebrauchte Schuhe, 2 Decken, verschiedene Wäschestücke und Kleider verabreicht. Den in Not geratenen Familien der Inhaftierten wurden insgesamt 24 Lebensmittel­pakete im Werte von je 5 S, 20 kg Fleisch und 9 gebrauchte Pullover von der SAH gespendet. Den Kindern wurden zusammen rund 15 kg Bäckereien und 40 Stück neue Spielsachen gegeben, 15 Kinder wurden über die Weihnachtsfeiertage bei bessergestellten Genossen verköstigt und beschenkt. 

Im Widerstand

Die meisten Aktivistinnen und Aktivisten der SAH setzen ihre illegalen Aktivitäten auch unter den wesentlich gefährlicheren Bedingungen der NS-Diktatur fort – die Arbeiterhilfe wird gleichsam zum Ersatz für die zerschlagene Parteiorganisation. Viele werden nun selbst zu Opfern des Terrors – bloß, weil sie Geld sammeln oder selbst spenden.

Durch den Verrat eines ehemaligen Sportredakteurs der Arbeiter-Zeitung kommt es bereits im Sommer 1938 zu einer ersten Verhaftungswelle und im Juni 1939 zu einem Schauprozess gegen führende Funktionäre der Organisation in Wien. Kurz darauf wird auch die neue Führungsriege von der Gestapo ausgehoben. Nach dem Kriegsausbruch im Spät­sommer 1939 zerfällt der Widerstand in einzelne, voneinander isoliert agierende Gruppen.

Neubeginn

Kurz nach Kriegsende laufen die Hilfsaktionen wieder an und im Herbst 1945 setzt auch die Unterstützung aus dem Ausland wieder ein, bei der österreichische Exilanten aus den Reihen der Sozialdemokratie eine wichtige Rolle spielen. Innerhalb der SPÖ bilden Rudolfine Muhr, Marie Matzner und Frieda Nödl eine erste Zentrale zur Koordinierung der mannigfaltigen Bemühungen um die Wiederherstellung einer organisierten Arbeiterhilfe. Die veränderten politischen Rahmenbedingungen erfordern allerdings eine neue Organisationsform. Am 21. März 1947 kommt es deshalb zur Gründung der „Volkshilfe“.

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Volkshilfe Wien

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