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Aktuelle Seite: „Wiens schönstes Goethe-Denkmal“
0063 | 10. APRIL 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Wiens schönstes Goethe-Denkmal“


Am 10. April 1932 wird der bereits besiedelte Goethehof durch den Wiener Bürgermeister Karl Seitz feierlich eröffnet: Noch vor sechzig Jahren war auf diesem Grund ein tiefes Bett der Donau […] es war ein Gebiet, unfruchtbar und öde. […] Heute stehen auf diesem Boden Wohnbauten, heute leben in diesem einzelnen Bau allein mehr als 700 Parteien, 1500 Kinder in hygienisch einwandfreien, gesicherten Wohnungen.

Anwesend ist auch der deutsche Gesandte Dr. Kurt Rieth und zur feierlichen Untermalung spielt die Musikkapelle der „Arbeiterturner“. Es ist, wie die Arbeiter-Zeitung tags darauf berichtet, eine der schönsten Feiern dieser Art.

Die Gemeinde Wien erwirbt das weitläufige Areal in Kaisermühlen – das damals noch zum zweiten Bezirk gehört und bis heute „Weissau“ genannt wird – im Jahr 1927 von der Familie Weiss. 1929 wird mit dem Bau der Wohnhausanlage begonnen. Die Benennung nach Johann Wolfgang von Goethe wird im September 1931, zum Andenken an dessen 100. Todestag im Jahr 1832, vom Wiener Gemeinderat beschlossen.

Nah am Wasser gebaut

Der mächtige Goethehof umfasst insgesamt 50 Stiegen, ist in drei Höfe unterteilt und grenzt im Norden direkt an das Kaiserwasser. Der Durchgang zur „hauseigenen“ Badestelle wird von zwei pylonartigen Wohntürmen mit übereck laufenden Balkonen und verglasten Stiegenhäusern flankiert.

Die Wohnhausanlage zählt wegen ihrer Größe zu den sogenannten Superblocks und wird von mehreren Architekten gemeinsam entworfen: Viktor Mittag (1896-1962) und Karl Hauschka (1896-1981), die gemeinsam auch den Wildganshof und den Eberthof errichten, den Otto-Wagner-Schülern Rudolf Frass (1880-1934), Heinrich Schopper (1881-1952) und Alfred Chalusch (1883-1957), dem Verfechter der Gartenstadt-Idee und Pionier des kommunalen Siedlungsbaus Hugo Mayer (1883-1930) sowie Johann Rothmüller (1882-1965), der auch als Bühnenarchitekt tätig ist.

Mit 727 Wohnungen und über 3.000 Bewohnern ist der Goethehof zum Zeitpunkt seiner Errichtung das größte „Volkswohnhaus“ auf dem Gebiet der heutigen Donaustadt. Jede Wohnung ist mit WC, Wasseranschluss sowie einer Küche mit Herd und Abwasch ausgestattet.

Der Bau verfügt zudem über ein Jugendheim, eine Bibliothek, Waschküchen und eine zentrale Badeanstalt mit Wannen- und Brausebädern, eine Tuberkulosen­fürsorgestelle, ein Kaffeehaus, zahlreiche Geschäfte und einen Kindergarten als freistehendes Gebäude im Innenhof.

Das ist eine Welt! Farbenreich, farbenfroh vom Plafond bis auf den Fußboden

Wie es bei den Montessori-Heimen schon geht: den Erwachsenen wird schon der Eintritt ins Heim schwer gemacht. […] Wer weiter will, muß sich ein paar Filzpantoffeln anziehen.

Der Kindergarten wird von Architekt Hugo Mayer geplant und nach dessen frühen Tod im Jahr 1930 vom Wiener Architekturbüro Singer & Dicker unter der Leitung von Österreichs einzigen Bauhaus-Schülern Franz Singer (1896–1954) und Friedl Dicker (1898–1944) fertiggestellt.

Es ist der erste Kindergarten der Gemeinde Wien, der vollständig nach den Vorstellungen der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori gestaltet wird, und in dem Pädagogik, Psychologie und Architektur zusammenwirken, um die Kleinen zu Selbstständigkeit und Verantwortungs­bewusstsein zu erziehen. Die Lernmittel – das Spielzeug der Kinder – sollen alle Sinne in gleicher Weise entwickeln helfen, der Tastsinn, das Gehör wird geschult, nicht durch Drill, sondern im Spiel, das die Kinder selbst wählen, schreibt der Kuckuck.

Die großen, hellen Räume sind klar gegliedert, ein ausgeklügeltes Farbleitsystem erleichtert den Kindern die Orientierung und strukturiert ihren Tagesablauf, die Einrichtungs­gegenstände sind an die Kraft und Größe der Kinder angepasst. Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht, bis hin zu den Haken für die Arbeitskittel und den Halterungen für Zahnbürsten und Becher.

Das Recht der Arbeiter auf Schönheit

Um die Arbeiterinnen und Arbeiter auch zu Kunstgenuss und Schönheit zu erziehen, wird der Goethehof mit einer Reihe von Kunst-am-Bau-Werken ausgestattet. Über dem Haupteingang an der Schüttaustraße befinden sich drei Figuren von Carl Wollek, eine Tänzerin und zwei Musiker.

In der Nähe der Bücherei ist an der Fassade eine Sonnenuhr mit keramischen Tierkreiszeichen angebracht, entworfen vom Architekten Alfred Chalousch, umgesetzt vom Bildhauer Oskar Thiede. Und beim Kindergarten steht eine 1930 von Hans Vohburger geschaffene Naturstein­plastik, die eigentümlicherweise den Rattenfänger von Hameln darstellt.

Der Goethehof war rot...

Der Goethehof war zum 1. Mai mehrheitlich mit der roten Fahne, mit den drei Pfeilen, beflaggt. Der Hof war beflaggt, das kann man sich gar nicht vorstellen. [...] Der Goethehof war rot, da hat es fast keinen gegeben, der keine Fahne am Fenster hatte. Editha Vanicek, Bewohnerin des Goethehofs

Zwei Wochen nach der feierlichen Eröffnung findet in Wien die letzte Landtags- und Gemeinderatswahl der Ersten Republik statt. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erreicht mit 59 Prozent erneut die absolute Mehrheit, die NSDAP erringt aus dem Stand heraus über 17 Prozent der Stimmen.

Daraufhin kommt es im Goethehof zu gewaltsamen Auseinander­setzungen zwischen den mehrheitlich sozialdemokratisch gesinnten Hausbewohnern und Nationalsozialisten, die eine Hakenkreuzfahne am Goethehof hissen.

Während der Februarkämpfe 1934 ist der Goethehof eines der Zentren des sozial­demokratischen Widerstandes. Nachdem sich auch geflüchtete Schutzbündler aus Kagran im Hof verschanzen, wird das Gebäude am 14. Februar mit Maschinengewehren beschossen.

Das Bundesheer bringt am rechten Donauufer, beim heutigen Mexikoplatz, Feldhaubitzen und Kanonen in Stellung, die am Nachmittag das Feuer auf den Bau eröffnen. Und Godwin von Brumowski, einer der legendären Jagdflieger des Ersten Weltkriegs, fliegt gegen den Goethehof den einzigen Luftangriff dieses Bürgerkriegs. Dabei geraten Teile des Gebäudes in Brand, das Café Goethehof, die Bibliothek sowie einige Wohnungen werden zerstört. Am Vormittag des 15. Februar ergeben sich die Verteidiger.

Im selben Jahr wird ein Teil der kindgerechten Ausstattung des Kindergartens zerstört, das Jugendheim in eine Kapelle umfunktioniert. Nach dem sogenannten Anschluss wird daraus ein Schauraum der Hitlerjugend. Und an der Schüttaustraße bringt man eine Bronzetafel mit einem Relief und einem Ausspruch Walthers von der Vogelweide an. Beide existieren bis heute weitgehend unbeachtet, aber auch unkommentiert. Eine von Bildhauer Franz Pixner gestaltete Gedenktafel neben dem Hauptportal erinnert seit 1984 an die Gefallenen der Februarkämpfe.

Österreichweite Bekanntheit erlangt der Goethehof in den 1990er Jahren schließlich als einer der Schauplätze der Fernsehserie Kaisermühlen Blues.
 

Literatur
Goethehof zwischen Dorfidylle und Weltmetropole, Wien 2014

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