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Aktuelle Seite: „Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt?“
0047 | 27. OKTOBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt?“

Konsum- und Sozialforschung im Roten Wien

Am 27. Oktober 1931 wird in Wien die Österreichische Wirtschafts­psychologische Forschungsstelle gegründet. Die ÖWF beforscht vieles: vom Kölnisch Wasser – dem damals populärsten Duftwasser – bis zur „Erwerbs­losensiedlung Leopoldau“.

Bereits um das Jahr 1927 plant Paul Felix Lazarsfeld, der neben seiner Tätigkeit als Mittelschullehrer auch eine von der Rockefeller Foundation finanzierte wissenschaftliche Stelle am Psychologischen Institut der Universität Wien innehat, eine Abteilung für Sozialpsychologie zu errichten. Diese soll es ihm ermöglichen, durch Auftrags­forschungen Geldmittel für sozialpsychologische Untersuchungen zu verdienen.

1930 nimmt die Idee in Form der Wiener Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle konkrete Gestalt an. Tatsächlich gegründet wird sie jedoch erst am 27. Oktober 1931 unter dem Namen Sozialpsycho­logischer Verein; der Name wird bereits bei der Konstituierung in Österreichische Wirtschafts­psychologische Forschungsstelle (ÖWF) abgeändert.

Eine fabulöse Ansammlung bekannter Namen und hoher Titel

Als Präsident fungiert der renommierte Leiter des Psychologischen Instituts Karl Bühler; unterstützt wird er von einem 38-köpfigen Beirat, der, so Otto Neuratheine beinahe unvorstellbar fabulöse Ansammlung von bekannten Namen und hohen Titeln enthielt. Dem Beirat gehören u.a. der Sekretär der Wiener Arbeiterkammer Benedikt Kautsky, der Nationalökonom Ludwig Mises, der Textilindustrielle Bernhard Altmann, der Warenhausinhaber Paul Gerngroß, der Lebensmittel­konzerndirektor Manfred Mautner-Markhof und der Generaldirektor der Julius Meinl Aktiengesellschaft Kurt Schechner an. Der Sitz der Forschungsstelle befindet sich zunächst in der Wallnerstraße 8, dann in der Wächtergasse 1.

Marktforschung zu verkaufen

Spezialgebiet der neuen Forschungsstelle ist die Anwendung psychologischer und sozialpsycho­logischer Forschungsmethoden auf das Konsumentenverhalten und die Käuferpräferenz. Trotzdes marxistischen Hintergrunds der meisten ÖWF-MitarbeiterInnen handelt es sich bei den Auftragsarbeiten durchwegs um marktanalytische Untersuchungen zur Konsumsteigerung. Aufträge gibt es anfangs kaum, denn Marktforschung ist noch weitgehend unbekannt.

Hans Zeisel, einer von Lazarsfeld frühen Mitarbeitern, erinnert sich vierzig Jahre später: Marktforschung zu verkaufen war damals ungefähr so einfach, wie ein Zweirad zu verkaufen an jemanden, der von so einer Maschine noch nie gehört hatte. Etwa so: Ich möchte Ihnen eine Maschine verkaufen, die aus zwei Rädern besteht, auf denen Sie sich bequem, rasch und ohne Schwierigkeiten weiterbewegen können. Ungefähr so leicht war es, die ersten Markt­forschungsstudien zu verkaufen.

Die insgesamt etwa 20 markt­analytischen Untersuchungen der ÖWF folgen einem General­schema und sind von sogenannten Verkaufs- und Konsum­barometern begleitet.

In einem Werbeprospekt der ÖWF heißt es 1931: Die Untersuchungen dieser Arbeitsstelle werden sich z.B. mit den wirtschaftspsychologischen Fragen der Branchenuntersuchungen zu befassen haben: wann wird eine Ware gekauft, wann gefällt ein Buch, was zieht an einem Kinostück an, was wirkt an einer Reklame, wo und wann wird überhaupt gekauft, woher weiß der Käufer von der Ware, an wen wendet sich das Angebot usw…

Renommierte Firmen

Erste Auftraggeber sind renom­mierte Firmen wie die Ankerbrot­werke, die Schuhfirma Bally, die Schuh- und Strumpffirma Delka, die Wäscherei Habsburg, die Schreib­gerätefirma Hardtmuth, das Warenhaus Herzmansky, die Lebensmittelfabrik Mautner Markhof oder die Lebensmittelkette Julius Meinl.

Wir haben da gemeinsam zum Beispiel eine große Erhebung für die Anker-Brotfabrik gemacht. Aufgrund unserer Publikumsbefragungen – da war ich auch dabei – ist dann dieses große Plakat gekommen: ‚Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt? Auf Hochquell Wasser und Ankerbrot.’ Reinhard Müller, Lotte Schenk-Danzinger im Gespräch mit Christian Fleck, 1988

1931 beauftragt die Österreichische Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft (RAVAG) die ÖWF mit einer qualitativen Hörerbefragung. Die Studie hat Modellcharakter. Der endgültige Durchbruch gelingt, als sich der Industrielle Mautner Markhof in einem Schreiben für die Dienste der Forschungsstelle mit der Bemerkung bedankt, dass der Absatz des betreffenden Produkts im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent zugenommen habe.

Von Bier bis Kölnisch Wasser

Es gibt keine edlen und unedlen Gegenstände der Forschung.

Die Liste der Produkte, deren Absatzchancen im Auftrag der Industrie ausgelotet werden, ist lang. Sie reichen von Bier, Blumen, Butter, elektrische Geräte, Essig, Fett, Fremden­verkehr (...) über Kaffee, Kleiderständer, Kölnischwasser, Kunstseide, Radio, Schokolade, Schuhe – bis zu Waschanstalt und Wolle (Zeisel). Denn, wie Lazarsfeld später seinen Studierenden an der Columbia University New York erklären wird: Es gibt keine edlen und unedlen Gegenstände der Forschung.

Die Arbeit im Dienste des Kapitals ermöglicht es den ForscherInnen, „nebenbei“gesellschaftspolitisch relevante, aber schlecht dotierte Untersuchungen durchzuführen. Die sozialwissenschaftlichen Studien der ÖWF befassen sich mit dem Bildungsniveau der Großstädter, dem Lebensstandard der Wiener Bettler oder der „Erwerbslosen­siedlung Leopoldau für Ausgesteuerte“.

Marienthal – ein Klassiker

Die aufwendigste und bekannteste Arbeit der Forschungsstelle wird zum Klassiker der empirischen Sozialforschung: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1933 ohne Verfasserangabe publiziert, nach dem Krieg in viele Sprachen übersetzt.

Diese von Paul Lazarsfeld gemeinsam mit Marie Jahoda, Hans Zeisel und einem 15-köpfigen Team durchgeführte Untersuchung behandelt die Auswirkungen langanhaltender Arbeitslosigkeit –auf die betroffenen Menschen und auf die Gemeinschaft als Ganzes.

Nach Lazarsfelds Umzug in die USA im September 1933 übernimmt Hans Zeisel interimistisch die wissenschaftliche Leitung der ÖWF, ihm folgen im Januar 1934 Marie Jahoda und Gertrude Wagner. Ende 1934 wird der Verein wegen interner Differenzen aufgelöst. Als Nachfolgeorganisation fungiert – wiederum mit Marie Jahoda als Leiterin – die Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der ÖWF.

Die Arbeitsgemeinschaft gilt als erste außeruniversitäre, rein privatwirtschaftliche sozial­wissenschaftliche Forschungs­einrichtung des Landes, beschäftigt bis zu 160 Rechercheure und ist bis 1936 u.a. im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung tätig.

Nach dem Februar 1934  fungieren die Räumlichkeiten der ÖWF auch als regelmäßiger Treffpunkt für die illegalen Revolutionären Sozia­listen. Über die Arbeitsgemeinschaft wird ein Teil der Korrespondenz mit der emigrierten Parteiführung abgewickelt.

In Folge einer Denunziation kommt es im November 1936 zu einer Hausdurchsuchung. Marie Jahoda wird verhaftet, die Forschungsstelle im März 1937 offiziell geschlossen.

DIE ARBEITSLOSEN VON MARIENTHAL

Sonderausstellung im Waschsalon 2013/14

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