Im Sommer 1932 sind die 70 Häuser der Werkbundsiedlung mehrere Wochen lang für Besucher geöffnet. Die ursprünglich zum Verkauf gedachten Musterhäuser werden später großteils in den Bestand der Stadt übernommen. Die Siedlung gilt heute als eines der bedeutendsten Beispiele der Moderne in Österreich.
Doch sei kurz erwähnt, daß eine Fülle junger Talente sich hier aufs eifrigste betätigt hat, manches verheißungsvolle darunter.Neue Freie Presse, 3. Juni 1932
Neben bekannten ausländischen Architekten wie Gerrit T. Rietveld, Hugo Häring oder André Lurçat sind die wichtigsten österreichischen Architekten – und eine einzige Architektin – der Zwischenkriegszeit an dem Projekt beteiligt: Anton Brenner, Arthur Grünberger, Clemens Holzmeister, Josef Frank, Oswald Haerdtl, Josef Hoffmann, Ernst Lichtblau, Adolf Loos, Richard Neutra, Ernst A. Plischke, Grete Schütte-Lihotzky, Walter Sobotka, Oskar Strnad, Hans A. Vetter, Oskar Wlach und andere – insgesamt 33 Personen, von denen viele noch am Beginn ihrer Karriere stehen.
Initiator und künstlerischer Leiter des Projekts ist der Architekt Josef Frank, einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten „Zweiten Wiener Moderne“ der Zwischenkriegszeit und ein vehementer Kritiker der monumentalen Wohnblöcke im Roten Wien. Ziel und Zweck ist jedoch nicht die Propagierung neuer Baumethoden oder eines „neuen Stils“.
Das Äußere der Werkbundsiedlung wird sicherlich so manchen auf den ersten Blick befremden...Josef Frank, 1932
Der Pragmatiker Frank will vielmehr die Vielfalt funktionaler Lösungen zeigen, die auch mit den reduzierten Mitteln des modernen Bauens erzielt werden können. Die Siedlungshäuser sollen den Besuchern die bunte Palette moderner Haustypen für künftige Siedlungsanlagen vorstellen und der zum Mittelstand aufgestiegenen Arbeiterschicht eine ihren Bedürfnissen angemessene Wohnkultur präsentieren.
Die Wiener Mustersiedlung bildet den Abschluss einer Reihe internationaler Werkbundausstellungen, wie etwa jener in Stuttgart Weißenhof (1927) oder in Breslau (1929). Ursprünglich für 1930 geplant, sollte auch die Wiener Siedlung neue Ideen auf dem Gebiet des Kleinwohnungsbaus präsentieren, umfasste sowohl Flach- als auch Geschoßbauten und verstand sich als Alternative zum Bauprogramm des Roten Wien.
Entgegen der ersten Planung wird die Siedlung schließlich nicht im Rahmen der Wohnbautätigkeit der Gemeinde Wien, sondern aus Mitteln der „Heimbauhilfe“ der Gesiba errichtet. Außerdem erfolgt die Zuweisung eines neuen Baugeländes. Auf dem ursprünglich vorgesehenen Areal an der Triester Straße ist bereits ein großer Gemeindebau in Planung, in dessen „Schatten“ man nicht stehen möchte. Das Projekt übersiedelt deshalb vom Arbeiterbezirk Favoriten an den Rand des Villenviertels in Hietzing.
Die damit einhergehenden Neuplanungen – es sollen ausschließlich Einfamilienhäuser mit kleinen Gärten errichtet werden – führen zu einer Verzögerung von zwei Jahren. Auch das Zielpublikum für die zum Verkauf bestimmten und eingerichteten Musterhäuser ist mittlerweile ein anderes, die Folgen der Wirtschaftskrise haben ihre Spuren hinterlassen...
Die Häuser sind so unterschiedlich wie ihre Architekten. Jene von Adolf Loos, Gerrit T. Rietveld, Gabriel Guevrekian und Josef Frank zählen mit jeweils etwa 100 m² Wohnfläche zu den größten, jene von Ernst Plischke, Anton Brenner, Hugo Häring und Walter Loos mit jeweils nur 60 m² zu den kleinsten Häusern.
Denn das, was hier gezeigt wird, ist frei von allen konventionellen Lügen, von allem Unnötigen und Überflüssigen, ist Vereinigung von Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Schönheit.Neues Wiener Journal, 1932
Die Werkbundsiedlung kann im Rahmen der „Internationalen Werkbundausstellung Wien“ vom 5. Juni bis 7. August 1932 besichtigt werden. Die Reaktionen der Presse und der über 100.000 BesucherInnen fallen überwiegend positiv aus.
Nur die konservative Reichspost vom 19. Juni 1932 gibt die Eindrücke eines Nichtfachmannes wider: ...in die sanften Linien der Wienerwaldlandschaft passen die kubischen Formen wenig herein. Von den 32 an der Ausstellung beteiligten Architekten sind nur 17 Österreicher... Und auch an den sackartig und engen Wohnräumen sowie den übermäßig kleinen Schlafzimmern und Küchen hat der „Nichtfachmann“ einiges auszusetzen.
Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Krisensituation in Österreich können nur 14 der Häuser tatsächlich verkauft werden; die übrigen werden zunächst vermietet und gelangen 1938 ins Eigentum der Stadt Wien.
Die Wiener Werkbundsiedlung kann zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung weder eine Vorbildwirkung noch Einfluss auf die zukünftige Architektur entfalten. Die Siedlerbewegung hat ihren Höhepunkt längst überschritten und die politische Situation nach dem Februar 1934 lässt kaum noch Raum für gesellschaftspolitische Experimente.
Von den ursprünglich 70 Einfamilienhäusern sind heute noch 64 erhalten, sechs fallen der Bombardierung Wiens in den letzten Kriegsmonaten zum Opfer. Die gesamte Anlage steht unter Denkmalschutz. Die im Gemeindebesitz befindlichen Bauten der Werkbundsiedlung werden im Rahmen einer ersten Generalsanierung von 1983 bis 1985 von Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger instandgesetzt.
Von 2011 bis 2020 folgt eine zweite Generalsanierung durch das Architektenteam p.good Architekten Azita Goodarzi und Martin Praschl. In Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt wird bei der Sanierung von 48 Häusern der Zustand von 1932 – so weit wie möglich – wiederhergestellt und die vorhandene Bausubstanz langfristig gesichert. 2020 erhält die Werkbundsiedlung das Europäische Kulturerbe-Siegel.
Im Herbst 2012 zeigt das Wien Museum die Ausstellung „Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens“. Das Architekturzentrum Wien organisiert auf Anfrage Führungen durch die Werkbundsiedlung. Individuelle Besichtigungen sind auch mithilfe einer Mobilen App mit Audio-Guide möglich.
Links
Werkbundsiedlung Wien
Wien Museum – mit Film
Architekturzentrum Wien