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Aktuelle Seite: „Atheisten, Naturalisten, Sceptiker und dergleichen Leute“
0014 | 15. APRIL 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Atheisten, Naturalisten, Sceptiker und dergleichen Leute“

Der lange Kampf um „freies Denken“

Viele Ströme speisen den Ozean des Weltsozialismus; die proletarische Freidenkerbewegung ist einer von ihnen.Otto Bauer

Ende April 1931 berichtet die Arbeiter-Zeitung vom 10. Kongress des Freidenkerbundes Österreichs, der aus Anlass des zehnjährigen Gründungsjubiläums der Vereinigung in Hernals abgehalten wird. Fast alle Gruppen hatten Delegierte entsandt, so daß der große Saal gefüllt war.

Die Grüße des Parteivorstands überbringt Otto Bauer. In seiner Ansprache betont er die Neutralität der Partei gegenüber religiösen Weltanschauungen: Religion ist Privatsache. Allerdings: Von diesen Weltanschauungsgruppen ist das Freidenkertum innerhalb des kontinentalen Sozialismus die älteste und größte.

Die freethinker

Tatsächlich geht der Begriff des Freidenkersauf die frühen englischen Aufklärer zurück, die sich selbst freethinker nannten. Erstmals bezeugt ist das Wort in einem Brief des irischen Philosophen und Natur­wissenschaftlers William Molyneux vom 6. April 1697 an John Locke, einem Vordenker der Aufklärung. Molyneux bezeichnet den Adressaten darin als candid freethinker. Die daraus hervorgehende Bewegung tritt für ein vernunftgelenktes und  selbständiges Denken ein, lehnt Vorurteile, Fanatismus und „religiösen Aberglauben“ ab.

Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz überträgt den englischen Namen ins Deutsche: Freidenker. Im 18. Jahrhundert werden sie auch als Freigeister bezeichnet, und von ihren Widersachern als Atheisten, Naturalisten, Deisten, grobe Indifferentisten, Sceptiker und dergleichen Leute verunglimpft.

Im 19. Jahrhundert tritt die Bewegung zusehends aus dem Elfenbeinturm der gelehrigen Diskussionen heraus und wird politisch. Die heftig geführten Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche betreffen nunmehr konkrete gesellschaftspolitische Fragen auf dem Gebiet des Schulwesens und des Eherechts, die Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, nach der Auflösbarkeit der Ehe oder nach einer Zulassung der  „heidnischen“ Feuerbestattung.

Freidenken schwer gemacht

In Deutschland entstehen erste freidenkerische Vereinigungen bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 1869 gründet der aus Mainz stammende Theologe und abgefallene Priester Michael Biron in Graz einen ersten Freidenker­verein auf österreichischem Boden. Zwei Jahre später wird er des Landes verwiesen. 1880 konstituiert sich in Brüssel der Internationale Freidenkerbund; im Jahr darauf der Deutsche Freidenkerbund, an dessen Gründung auch Wilhelm Liebknecht mitwirkt.

Am 20. Februar 1887 wird im Hotel Englischer Hof in Mariahilf der Verein der Konfessionslosen gegründet. Die Wahl des Ortes ist kein Zufall. Bereits 1876 fand hier die Gründungsversammlung des Arbeiterbildungsvereins Gumpendorf statt. Erster Vorsitzender der Konfessionslosen ist der Arzt und Schriftsteller Erwin Plowitz, er muss seine Funktion jedoch aufgrund des behördlichen Drucks bald darauf wieder niederlegen. 1893 erfolgt die Umbenennung in Verein der Freidenker Nieder-Österreichs. Das 1895 erstmals erscheinende Mitteilungsorgan des Vereins erhält 1903 den Namen Der Freidenker.

Der bald darauf, 1905 gebildete Verein Freie Schule propagiert die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf das öffentliche Schulwesen. Andere nahestehende Organisationen sind die Ethische Gesellschaft, die sich die humanistische Gestaltung der Gesellschaft zum Ziel setzt, und der Verein Die Flamme, der für die Legalisierung der Feuerbestattung eintritt. 1906 erringt der damalige Obmann des Freidenkerbundes Ludwig Wutschel sogar ein Mandat im Wiener Gemeinderat.

Die Trennung von Kirche und Staat

Am XIV. Weltkongress des Internationalen Freidenkerbundes 1907 in Prag nehmen auch zahlreiche Mitglieder des Wiener Eherechtsreformvereins teil. In der Abschlussresolution der Tagung heißt es u.a.: Die mit dem Staat verbündete Kirche und die von Staat eingerichteten konfessionellen Schulen sind Bestrebungen, den Menschengeist in Knechtschaft und Rückständigkeit zu erhalten, um so der Kirche gedankenlose Nachbeter und dem Staate willenlose und ganz abhängige Kreaturen zu erziehen.

Nach der Gründung der Republik schließen sich verschiedene freisinnige Organisationen zusammen, 1921 erfolgt die Umbenennung des Vereins in Freidenkerbund Österreichs.

Daß innerhalb der Arbeiterbewegung bestimmte Gruppen, vor allem die Freidenker, gegen die Religiosität kämpfen, bedeutet noch nicht, daß dies die Partei als solche tut, daß es die Gewerkschaften als solche tun. Die Freidenker sind innerhalb der Arbeiterbewegung in einer ähnlichen Lage wie die Naturfreunde oder die Abstinenten. Otto Neurath, Lebensgestaltung und Klassenkampf, 1928

Von „Grüß Gott“ zu „Freundschaft!“


Mit der Eröffnung des Wiener Krematoriums gelingt der Freidenkerbewegung 1922 ein wichtiger Erfolg gegen den massiven Widerstand der Kirche und der Konservativen.

Der Errichtung und Inbetriebnahme war ein monatelanger erbittert geführter Kulturkampf vorangegangen.

Im Roten Wien entwickelt der Verein, der 1932 rund 65.000 Mitglieder zählt, die an ihrem Abzeichen – einem Stiefmütterchen – erkennbar sind, eine freidenkerisch-sozialistische Fest- und Feierkultur, die sich als Alternative und Gegenmodell zur klerikal-katholisch geprägten Tradition versteht.

An die Stelle von Taufen treten Namensfeiern, Jugendweihen sollen Kommunion und Konfirmation ersetzen, weltliche Heirats­zeremonien und Trauerfeiern lösen die kirchliche Trauung und Beerdigung ab. Ihren Sitz hat die Geschäftsstelle der Internationale Proletarischer Freidenker übrigens im Metzleinstaler-Hof.

Im Frühjahr 1931, als die Freidenker ihr zehnjähriges Jubiläum feiern, ist die katholische Reaktion allerdings bereits auf dem Vormarsch.

Der Klerikalismus begnügt sich nicht mit der Machtstellung, die ihm willlfährige Regierungen unter Mißbrauch der Staatsgewalt, insbesondere auf dem Gebiet des Schulwesens von der Volksschule bis zur Universität geschaffen haben, und er will die schwere innere Not der unter einem unhaltbar gewordenen Eherecht leidenden Massen dazu mißbrauchen, um im Wege eines Konkordats gegen das Linsengericht einer Reform des veralteten Eherechtes die bedingungslose Herrschaft über die Schule und die Jugend wieder zu erlangen.
Arbeiter-Zeitung, 28. April 1931

Freidenken verboten!

Alle Kirchen widerhallen von Schmähworten gegen die Sozialdemokratie, von Hassreden gegen die Arbeiterschaft. Karl Leuthner, Religion und Sozialdemokratie

Es verwundert deshalb auch nicht, dass der Freidenkerbund bereits im Juni 1933 als erste sozial­demokratische Kulturorganisation per Notverordnung verboten wird.

Am 5. Juni 1933 schließt die österreichische Bundesregierung unter Bundeskanzler  Dollfuß mit Papst Pius XI. ein neues Konkordat, das die Macht und den Einfluss der katholischen Kirche stärkt. Dieser völkerrechtliche Vertrag, dessen  Fortgeltung nach 1945 zunächst umstritten ist, wird von der Bundesregierung 1957 anerkannt, und ist, wenn auch durch nachfolgende Teilkonkordate abgeändert, bis heute in Kraft.

Die Nationalsozialisten, die der Religion eher distanziert gegenüberstehen, verbieten dennoch alle freidenkerischen Vereinigungen, ihr deutscher Vorsitzender Max Sievers wird 1944 ermordet. Ihre Ideologie ist ihnen Glaube genug, die Vernunft macht Pause. Wohl mit ein Grund dafür, dass eine Wiederbegründung der Freidenker auch in der DDR ausbleibt.

Sozialismus und Religion sind keine Gegensätze mehr

In Österreich kommt es 1948 zur Neugründung des Freidenker­bundes. Eine Wiedergründung im Sinne der Rechtskontinuität mit der 1933 verbotenen Organisation wird vom sozialdemokratischen Innenminister Oskar Helmer allerdings verhindert, das beschlagnahmte Vereinsvermögen deshalb auch nicht zurückerstattet. Von Seiten der SPÖ erhält der Verein offiziell keine Unterstützung mehr. Im 1958 beschlossenen Parteiprogramm heißt es im Abschnitt Sozialismus und Religion: Sozialismus und Religion sind keine Gegensätze. Jeder religiöse Mensch kann gleichzeitig Sozialist sein.

Die Sozialdemokratie ist fortan bestrebt, Kulturkämpfe mit der ÖVP zu vermeiden und sich mit der katholischen Kirche auszusöhnen, ein Prozess, der unter dem erklärten Agnostiker Bruno Kreisky und dem „roten Kardinal“ König schließlich auch gelingen sollte.

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