Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Betrachtungen eines Gefühlssozialisten
0086 | 26. OKTOBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Betrachtungen eines Gefühlssozialisten


Im Oktober 1932 berichtet Das Kleine Blatt, dass der große Dichter, der mutige Kämpfer gegen den Ungeist seiner Zeit Thomas Mann auf Besuch in Wien sei.

Mann hält eine Reihe von Vorträgen, unter anderem in der Wiener Urania, im Arbeiterbildungsverein Alsergrund in der Säulengasse, wo er aus eigenen Werken liest, und in der Volkshochschule Ottakring zum Thema „Demokratie und Völkerverständigung“.

Eine Premiere für den Dichterfürsten: Es geschieht zum erstenmal, daß ich vor einem sozialistischen, zum Teil aus Arbeitern bestehenden Publikum spreche... Er empfinde die Situation als epochemachend für mein persönlichstes Leben und für meine geistige Entwicklung. Seine Ausführungen sieht er selbst als ein Bekenntnis, [...] eine Sympathiekundgebung für Ihre Sache.

Der Vorgeschmack einer neuen Gesellschaft

Vor seiner Abreise schildert Thomas Mann, wie die Arbeiter-Zeitung vom 26. Oktober berichtet, seine in Wien gewonnenen Eindrücke in den hellsten Farben: Die meisten der Nachkriegseinrichtungen, die die Gemeinde Wien auf sozialem Gebiet geschaffen hat, kenne ich aus früheren Besuchen. Geführt von Professor Tandler habe er diesmal Gelegenheit gehabt, die allerjüngsten kennenzulernen: die wunderbaren Siedlungen der Stadt Wien, wie zum Beispiel auch die Werkbundsiedlung, das neue Tuberkulösenheim [sic] und das Krebsinstitut des Krankenhauses der Stadt Wien.

Es sei erstaunlich und im höchsten Maße bewunderswert, so Mann, was hier vom hygienischen, ästhetischen und sozialen Standpunkt an Vorbildlichem geschaffen wurde und von keiner Stadt der Welt übertroffen wird.

Besonders hebt Mann die Tatsache hervor, daß für Menschen der armen Volksklasse an mustergültigen Einrichtungen bereitgestellt wird, was sich [...] anderwärts nur die reichen Bevölkerungskreise verschaffen können.

Es ist soziale Gerechtigkeit, wie man sie hier am vollendetsten und vorbildlich finden kann.

Die Tatsache, dass all dies bereits jetzt, in einer bürgerlichen Epoche geschaffen werden konnte, beweise, daß wir unversehens und automatisch in eine neue Kultur 'hineinschlüpfen', sozusagen den Vorgeschmack einer neuen Gesellschaft empfinden, die danach strebt, Luft, Licht, Sonne und Gesundheit für alle Menschen bereitszustellen. Das sei, so Thomas Mann abschließend, der Sinn und der Zweck der wahren sozialen Demokratie.

Manns Metamorphose

Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung, Anstand... Ich bekenne mich tief überzeugt, [...] daß der vielverschriene deutsche Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt...

Manche Beobachter erkennen in Manns Äußerungen einen bemerkenswerten Sinnes­wandel. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) hatte der „Großschriftsteller" (Alfred Musil) noch einen zukünftigen Volksstaat propagiert, der jenseits der westlichen Demokratie und des damit verbundenen Kapitalismus, aber auch jenseits des Sozialismus, wie er sich in Russland entwickle, stünde. Dieser Sonderweg der „deutschen Mitte“ fand auch bei den Deutschnationalen und den Anhängern der „konservativen Revolution“ einigen Anklang.

Auch der Münchner Räterepublik, die viele seiner Kollegen begeistert begrüßten, stand Thomas Mann ablehnend gegenüber. Zu Beginn, im November 1918, spricht er noch von einem „Faschingsersatz“, bald fürchtet er um sein Vermögen und um sein Leben.

Auf die Nachricht von der Ermordung Kurt Eisners reagierte er zwar mit Erschütterung, Entsetzen und Widerwillen gegen das Ganze, am Ende jubelte er aber doch darüber, wie die Armee mit all den „landfremden“ Elementen kurzen Prozess gemacht habe.

Innerhalb nur weniger Jahre vollzieht sich nun ein deutlicher Gesin­nungs­wan­del, und mit seiner Rede „Von deutscher Republik“ legt Thomas Mann 1922 ein deutliches Bekenntnis zur Weimarer Republik ab. Die Demokratie passe besser zu deutscher Kultur und Tradition als Wilhelminismus und „sentimentaler Obskurantismus“.

Er heult jetzt am lautesten im Modeton der Zeit

Viele von Manns früheren Bewunderern werden ihm diese Konversion nie verzeihen. Im streng antimarxistischen, aber stark jüdisch geprägten Neuen Wiener Journal verfasst der Schriftsteller Uriel Birnbaum am 23. Oktober 1932 eine böse Abrechnung mit dem Dichter.

Thomas Mann, der einst die von den „Zivilisationsliteraten“ geforderte „Demokratisierung Deutschlands“ als „Entdeutschung“ brandmarkte, habe sich angepasst, um im deutschen Literaturbetrieb, der sich fest in den Händen von „Linksleuten“ befinde, wieder Fuß fassen zu können. Jetzt fraternisiere er mit, um bei Manns eigener Diktion zu bleiben, jenem schreibenden, agitierenden, die internationale Zivilisation propagierenden Lumpenpack, dessen Radikalismus Lausbüberei, dessen Literatentum Wurzel- und Wesenlosigkeit ist.

Vernichtend fällt auch das Urteil in der austroklerikalen Neuen Zeitung vom 25. Oktober aus: Auch unsere Austromarxisten lieben es, wenn die Dichter des liberalen Bürgertums oder, um mit ihren Worten zu sprechen: der kapitalistischen Bourgeoisie ihre eigene Klasse' zersetzen. Das Kapitel ‚Anbiederung liberaler Literaten an die Sozialdemokratie und den Bolschewismus'habe mit den Wiener Reden des Dichters vom Zauberberg ein neues Blatt erhalten.

Nach der Machtergreifung Hitlers wird Thomas Mann 1933 in die Schweiz emigrieren und 1938 weiter in die USA. 1952 übersiedelt er wieder in die Schweiz, wo er 1955 in Zürich stirbt.

Fuss ...