© Der Architekt, 1903
Lange Zeit mangelt es der jungen Arbeiterbewegung an geeigneten Versammlungslokalen. Im Arbeiterbezirk Favoriten gelingt ihr erstmals der Weg aus der „Spelunke“, hinein ins eigene „Arbeiterheim“. Baubeginn ist am 5. August 1901 – vor 120 Jahren.
Unser Arbeiterheim [...] ist auch ein Wahrzeichen, das verkündet, daß die Sozialdemokratie feste Wurzeln gefaßt hat in dieser Stadt.
Es ist eine kleine, bescheidene Sache, ein lokales Ereigniß, das im Wirbel der Großstadt verschwindet und nur den Bezirk Favoriten angeht, den ärmsten der armen Proletarierbezirke. Auch neu ist es nicht, andere Städte sind Wien vorausgegangen, weiß die Arbeiter-Zeitung. Und tatsächlich gibt es in der Donaumonarchie bereits Arbeiterheime in Brünn, Aussig, Prag oder Pilsen.
Ende des 19. Jahrhunderts wächst auch in der Wiener Arbeiterschaft der Wunsch nach einer würdigen Stätte, einem eigenen Heim, das ihrer Gesamtorganisation dient, ein Heim für ihre politische, gewerkschaftliche und wirthschaftliche [sic!] Organisationsarbeit, eine eigene Stätte für ihren Kampf und für ihre Freude.
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Der junge Hubert Gessner
Um die finanziellen Mittel aufzubringen, konstituiert sich im Mai 1896 der Verein „Arbeiterheim Favoriten“ – zunächst ohne großen Erfolg. Dieser stellt sich erst ein, als sich Parteigründer Victor Adler der Sache annimmt und den Eigentümer der Ottakringer Brauerei, Moritz von Kuffner, dazu bewegen kann, das Projekt mit einem Kredit zu unterstützen.
1900 wird ein Baugrund erworben. 39 Projekte kommen beim Architekturwettbewerb zur Einreichung, unter den fünf erstgereihten stammen vier Entwürfe von Schülern Otto Wagners, der selbst in der Jury sitzt. Einer von ihnen erhält schließlich den Zuschlag: Hubert Gessner.
Das neue Arbeiterheim soll zwei große und mehrere kleine Säle, Büroräumlichkeiten, aber auch Wohnungen umfassen, um mit den Mieteinnahmen zu den ortsüblichen Preisen die Verzinsung zu decken. Und: Der Bau soll selbstverständlich in erster Linie allen hygienischen Anforderungen entsprechen, die die Lokale, die den Wiener Arbeitern zur Verfügung stehen, so häufig vermissen lassen.
Bei der Planung dieser Wohnungen ist Gessner, der zwei Jahrzehnte später Gemeindebauikonen wie den Reumannhof oder den Karl-Seitz-Hof schaffen wird, erstmals mit der Frage der Arbeiterwohnung konfrontiert.
Sagen wir es gleich offen heraus: Hubert Geßner [sic!], dem schließlich der Bau übertragen wurde, hat in dem Arbeiterheim Favoriten ein geradezu geniales Werk geschaffen. Arbeiter-Zeitung, 1902
Er meistert seine Bewährungsprobe bravourös, wie auch die Arbeiter-Zeitung im August 1902 attestiert: Freilich, anders wohnt hier schon der Proletarier als in den Favoritener Zinskasernen mit ihren stinkigen, luft- und lichtlosen Gängen, mit ihren sogenannten Lichthöfen und ihren anderen, jeder Wohnungshygiene hohnsprechenden Einrichtungen.
Gessner bringt in seinen Arbeiterwohnungen auch damals noch unübliche Neuerungen unter: Jede Wohnung, auch die kleinste, nur aus Zimmer und Küche bestehende, hat ein eigenes Vorzimmer, einen eigenen Abort und eigene Wasserleitung. […] Dazu kommt aber noch die große geräumige Waschküche und die gleich große Bügel- und Rollkammer unter dem Dache, die allen Parteien dient. [...] Angebaut an die Waschküche sind zwei Brausekammern – Douchebäder für die Miether. Und eine Veranda dient den Kindern des Hauses als gefahrloser Spielplatz. Bei seinen späteren Gemeindebauten werden die großzügigen Innenhöfe diese Aufgabe übernehmen.
Im Mezzanin des Wohntraktes befinden sich eine Zahlstelle der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse mit Chefarztzimmer, das Sekretariat des Arbeiterheimes, weiters Bibliotheks- und Unterrichtsräume. Das Parterre beherbergt drei Geschäftslokale: eine Filiale des Arbeiterkonsumvereines „Vorwärts“, eine Verschleißstelle für die Arbeiter-Zeitung und das hauseigene Wirtshaus.
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Die Eröffnungsfeierlichkeiten Anfang September 1902 erstrecken sich über zwei volle Tage. Zeit genug, um den Bau in der Arbeiter-Zeitung ausführlich zu besprechen.
Das „rothe Haus“, wie sie es heute schon nennen, das „Haus der Rothen“, wie es die Gegner neidisch nennen.Arbeiter-Zeitung
Wenn wir ihn von außen betrachten, so fällt uns vor allem die rothe Farbe ins Auge, die so reichlich zur Ausschmückung verwendet wurde. Vor dreißig Jahren wäre es als Hochverrath angesehen worden, dieses Haus so zu bauen, und noch in den Achtziger-Jahren hätte man diese rothen Fenstereinfassungen einfach konfiszirt, erklärt der Favoritner Gemeinderat Jakob Reumann.
Betreten wird das Haus durch ein schweres, schmiedeeisernes Tor, dessen durchbrochenes Ornament den rothen Kampfhahn symbolisirt [sic!], der hier einziehen soll. Er thront auf einem von rothen Nelken durchbrochenen Linienornament.
© Der Architekt, 1903
Für Staunen sorgt der 3.000 Personen fassende Festsaal im ersten Stock, dessen Decke aus einer Eisenkonstruktion von 18 Metern Spannweite besteht. An einer Seite ist Raum für das große Buffet, hier münden auch die Speise- und Getränkeaufzüge der Restauration. Das Podium – zugleich Bühne – wird von zwei Kolossalbüsten flankiert, die Karl Marx und Friedrich Engels darstellen. Hier finden nebst den großen politischen und agitatorischen Meetings die Konzerte statt, schreibt Der Architekt, 1903.
Überall zeigte sich die Meisterhand des Architekten Geßner, der in dem Streben, ein einheitliches Kunstwerk zu schaffen, alles selbst entworfen hatte, die Thürklinken, die Stiegengeländer, die Ampeln, die Träger der elektrischen Körper, der selbst die Portièren und Vorhänge ausgewählt hatte, um sie dem Farbenbild harmonisch anzupassen, kurz, der selbst dem kleinsten Detail Beachtung schenkte, ist die Arbeiter-Zeitung beeindruckt.
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Besonders hervorgehoben wird, dass Emma Adler, die Frau des Parteigründers, beziehungsweise der Architekt selbst nicht weniger als dreißig Thürfüllungen sowie künstlerisch dekorierte Fenster gestiftet hätten. Das Verfahren besteht darin, natürliche Blumen in gepreßtem Zustand zwischen zwei Glasplatten zu arrangiren [sic!]. Da die Blumen und Blätter, entzogen dem verderblichen Einfluß der Luft, ihre natürliche Farbe beibehalten, haben diese Blumenarrangements, diese Orchideen und Mohnblumen, diese Lilien und Narzissen, diese Farrenkräuter und Gräser, der Goldregen und die Robinie die Farbenkraft des Lebens, die durch die Durchleuchtung da und dort noch erhöht wird.
Das von Gessner gestiftete Glasfenster versorgt die Feststiege mit Licht und ist mit einer Malerei versehen: Es zeigt inmitten eines reichen Kranzes von rothen Nelken das Arbeiterwappen, das Sinnbild der Solidarität, die zwei schwieligen, ineinandergehaltenen Hände, die den aufrechten Hammer tragen.
Die symbolische Bedeutung dieses ersten Wiener Arbeiterheims wird auch bei der Eröffnungsfeier immer wieder thematisiert – und pathetisch gefeiert.
Der Weg,den das Proletariat Wiens im Eilmarsch zurückgelegt hat, den Weg von der Spelunke zum Volkshaus… Arbeiter-Zeitung
Fest steht sie da, die Burg der Arbeitersolidarität, ein Markstein in der Geschichte der Wiener Sozialdemokratie, ein Denkmal der geeinten Kraft, ein Wahrzeichen dem heranwachsenden Proletariergeschlecht, ein weithin leuchtender Wegweiser den Unentschlossenen, den Verirrten, den Abseitsstehenden, für die es noch nicht Tag geworden, ein Wahrzeichen aber auch den Gegnern, den Feinden, das ihnen Kunde gibt von der im denkenden Proletariat schlummernden Kraft.
Neben Ansprachen von Parteigrößen wie Julius Popp, Johann Pölzer, Franz Schuhmeier und Jakob Reumann erwartet die Gäste auch ein umfangreiches künstlerisches Programm. Da ist für jeden etwas dabei, von Beethovens Ouvertüre zu „Prometheus“ bis zu Arbeiterliedern von Josef Scheu. Die eigene Hauskapelle intoniert die Marseillaise, nebenan sorgen indes der Arbeiterzitherklub Simmering oder die Tamburizzakapelle des kroatischen Arbeitervereins „Sloga“ für musikalische Unterhaltung.
So schön die Räume sind, sie sind nicht da, um in ihnen zu ruhen: Aus dem Kampfe ist das Haus geboren, Kampf soll von diesem Hause ausgehen.
In seiner legendär gewordenen Eröffnungsrede erinnert Victor Adler an die Anfänge der Arbeiterbewegung, wie wir in elendsten Schlupfwinkeln gehaust haben, wie wir verfolgt, gehetzt in des Wortes brutaler Bedeutung, von Lokal zu Lokal getrieben, verachtet, verhöhnt waren in diesem Österreich, in diesem Wien […]. Nun sind wir ein Stück weiter: Hier sind wir zu Hause. Wir haben ein Heim!
Und er beschwört das neue Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse: Die Arbeiter sind unbescheiden geworden, und dies ist ihr Ruhm. Es hat eine Zeit gegeben, wo uns das Recht auf Arbeit bestritten wurde, und man hat darunter verstanden: das Recht des Arbeiters, sich ausbeuten zu lassen – heute verlangen wir weit mehr: das Recht auf die Frucht unserer Arbeit, das Recht auf Schönheit, auf Gesundheit, auf Wissen!
Körperliches Wohlbehagen verspricht auf jeden Fall das hauseigene Wirtshaus mit gemüthlichen Abtheilen:Küche und Keller des Arbeiterheims haben sich bei den Tausenden, die Sonntag und Montag hier weilten, bestens eingeführt […]. Die dargebotenen Speisen waren schmackhaft und preiswürdig, das Getränk – Ottakringer Lager und Abzug – gut und frisch, preist die Arbeiter-Zeitung.
Den Widerspruch, die unter der Arbeiterschaft weitverbreitete Trunksucht zu bekämpfen, gleichzeitig aber einen Finanzierungskredit beim Bierbrauer Moritz von Kuffner aufzunehmen, lässt sich der ewige Spötter Karl Kraus freilich nicht entgehen. In der Fackel stichelt er: Die Zeiten sind vorüber, da Herr Dr. Adler den Arbeitern zurief, sie sollten täglich ein Krügel Bier weniger trinken und lieber Agitationsschriften kaufen. Jetzt hat sich die Partei von einem reichen Brauer in Favoriten ein Arbeiterheim erbauen lassen. Hier würden bekanntlich auch belehrende Vorträge abgehalten. Hoffentlich handeln sie recht oft vom Antialkoholismus. Und jedesmal müßte zum Schluss ein Parteiführer die Zuhörer ermahnen:Trinket täglich ein Krügel Bier mehr, auf daß Kuffner’s Arbeiterheim bald uns gehöre!
Die Ottakringer Brauerei ist allerdings nicht die einzige Sponsorin des Arbeiterheims. Die Liste der am Bau beteiligten Firmen, die besonderes Entgegenkommen und außerordentliche Coulance zeigen, liest sich wie das Who is Who des Wiener Branchenverzeichnisses.
Die Dachkonstruktion sowie alle Betonarbeiten stammen von Pittel und Brausewetter, die Aufzüge von der Firma Freissler. Die Gebrüder Thonet liefern unter besonders coulanten Bedingungen sämtliche Möbel, die Firma Backhausen die Vorhänge, die Berndorfer Metallwarenfabrik das Eßbesteck, die Gläser kommen von C. Stölzle‘s Söhnen.
Und wer es immer noch nicht mitbekommen hat, und was so manchen Besucher interessirt: das Bier kommt aus der Ottakringer Brauerei der Firma Kuffner.
1934 wird das Arbeiterheim Favoriten durch die Austrofaschisten besetzt, 1938 gelangt es in den Besitz der NS-Kreisleitung, von 1945 bis 1951 ist es Sitz der russischen Kommandantur. In den 1990er Jahren wird es zu einem Hotel umgebaut. Aktuell betreibt hier der Fonds Soziales Wien ein Wohnungslosenheim für Familien und Frauen, in der Bike Kitchen Favorita werden Menschen mit Fluchthintergrund zu Fahrradmechanikern ausgebildet.
Literatur
Markus Kristan, Hubert Gessner. Architekt zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratie 1871–1943, 2011