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Aktuelle Seite: „Die Windelaktion der sozialdemokratischen Partei“
0062 | 5. APRIL 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Die Windel­aktion der sozialdemo­kratischen Partei“


Am 5. April 1927 gibt die Gemeinde Wien die ersten kostenlosen Säuglingswäsche­pakete aus. Freiwillige Mitarbeiterinnen an dem schönen Werk überbringen die Pakete mit einem Glückwunsch des Bürgermeisters den Frauen, die zu Hause entbinden. Die Frauen, die in Anstalten entbinden, erhalten die Wäsche bei ihrem Austritt aus der Anstalt von einer Fürsorgerin der Gemeinde eingehändigt, berichtet die Arbeiter-Zeitung zwei Tage später.

Nachdem Julius Tandler 1920 Amtsführender Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheits­wesen wird, beginnt er, seine sozial­politischen Ideen in die Tat umzusetzen. Viele seiner Initiativen bestehen bis heute, so auch das im Jahr 1927 eingeführte Säuglings­wäschepaket, eine kostenlose „Erstausstattung“ für Neugeborene.

Kein Wiener Kind darf auf Zeitungspapier geboren werden

1927 ist auch ein Wahljahr, weshalb die konservative Opposition das Wäschepaket abschätzig als „Wahlwindeln“ diffamiert. Die Illustrierte Kronen Zeitung berichtet am 12. Februar unter dem Titel „Große Krawalle im Gemeinderat“ von einer erbittert geführten Debatte. Auf den Zwischenruf des christlichsozialen Abgeordneten Hans Preyer Da wird draufstehen: Wählet sozialdemokratisch antwortet Julius Tandler: Auf diese Idee bin ich bisher nicht gekommen, nehme sie aber zur Kenntnis, jedenfalls werden wir uns bemühen, die Windeln weiß zu lassen. „Heiterkeit“ vermerkt das Protokoll.

Besorgt monieren die „Bürgerlichen“, eine derartige Fürsorge muss zwangsläufig eine Schwächung des Verantwortungs­gefühls herbeiführen,die Bremse zerbrechen, die die Gesellschaft benötigt, das Selbstgefühl, das Gemeinschaftsgefühl und das Gefühl der Selbstverantwortung schwächen. In einer weiteren Gemeinderats­sitzung verleiht der Abgeordnete Müller tatsächlich seiner Sorge Ausdruck, dass die rote Farbe an den Schachteln, in denen die Säuglingswäsche verpackt ist, ausgeht, und die einzelnen Stücke beschmutzt.

Nicht als Gnade und nicht als Bettel

Hauptkritikpunkt der Opposition bleibt jedoch die Tatsache, dass zum kostenlosen Bezug der Erstaus­stattung keinerlei Nachweis einer „Bedürftigkeit“ erforderlich ist. Ein dementsprechender Antrag des christlichsozialen Gemeinderats Karl Rummelhardt wird abgelehnt. Die Säuglingswäsche steht, wie die Sozialdemokraten immer wieder betonen, jeder nach Wien zuständigen oder in Wien wohnhaften Frau zu, die sich in den beiden letzten Monaten ihrer Schwangerschaft beim Bezirksjugendamt meldet.

Eine Erhebung der Bedürftigkeit findet ebensowenig statt, als auch ein peinlicher Nachweis der Mittellosigkeit nicht verlangt wird.Das Neue Wien, 1928

Die Gemeinde Wien hat diese neue Aktion aus Gründen einer gesunden Aufzuchtspolitik unternommen, heißt es 1928 in Das Neuen Wien, sie verfolgt damit aber auch den erzieherischen Zweck, durch die Beistellung schöner und guter Säuglingswäsche die Eltern der Neugeborenen zu hygienisch einwandfreier Aufzucht […] zu bringen. Erwartet werde, dass durch die Aktion das Verantwortungsgefühl der Wiener Mütter geweckt und gehoben und daß sie an ihnen wertvolle und kräftige Mitarbeiter in dem Kampfe gegen die Säuglingssterblichkeit finden werde.

Onkel Tandler hat ein Wäschepaket geschickt!

Eine Statistik der ersten 2.786 Bewerberinnen zeigt, dass sich tatsächlich Frauen aller Bevölkerungsschichten anmelden: 487 Frauen von Facharbeitern bzw. selbst Facharbeiterinnen, 554 Frauen von Hilfsarbeitern, 298 von öffentlich Bediensteten, 255 von Privatangestellten, 118 von Kaufleuten und anderen Gewerbetreibenden, 40 Angehörige „freier Berufe“, 260 Arbeitslose, 21 Hausgehilfinnen, 733 Hausfrauen und 5 Lehrerinnen.

Dafür, dass jede Kindesmutter ohne Rücksicht auf Rang und Stand Säuglings­wäsche erhält, bedankt sich etwa ein Rechtsanwalt und Verteidiger in Strafsachen, wohnhaft in der Inneren Stadt, wie ein Brief zeigt, der sich im Nachlass Julius Tandlers befindet: Als ich gestern abends meine Gattin Kitty, die seit 6 Tagen überglückliche Mutter ist, aufsuchte, empfing sie mich mit den Worten: „Onkel Tandler hat ein Wäschepaket geschickt! Und so wunderschöne Sachen sind drinnen!“ Meine Gattin war ganz selig, ich selbst aufs tiefste bewegt.

Protest kommt hingegen von den Händlern von Kinderwäsche. Sie fühlen sich von der Aktion geschädigt, zumal auch „reiche Leute“ beschenkt würden und den Kaufleuten damit eine Erwerbsmöglichkeit entgehe. Die Kaufmannschaft sieht sich durch diese und ähnliche Aktionen der Gemeinde gar „in ihrer Existenz bedroht“.

Die Geburtstagsgabe der Gemeinde an ihre jüngsten Bürger

Das Säuglingswäschepaket bringt stolze dreieinhalb Kilo auf die Waage und enthält vierundzwanzig Tetrawindeln, sechs gewirkte Jäckchen mit Ajourabschluß, ein großes Frottierbadetuch, sechs praktische Hemdchen, ein Badetuch, zwei Nabelbinden, ein Tragkleidchen aus Pikee, eine lichtblaue Flanelldecke und zwei Kautschukeinlagen – es fehlt wirklich nichts. Auch an Seife, Creme und Hautpuder, das Dreigestirn der Säuglingspflege, ist gedacht, so die Arbeiter-Zeitung.

1928 rechnet die Gemeinde Wien mit einem Jahresbedarf von 13.000 Paketen. Die Kosten belaufen sich laut Kleiner Volks-Zeitung auf 55 Schilling pro Paket, nach heutiger Kaufkraft etwa 200 Euro. Die Arbeiter-Zeitung veranschlagt jährliche Kosten in der Höhe von 700.000 bis 800.000 Schilling, also rund 2,5 Millionen Euro.

Bald wird auch „das Ausland“ auf diese ungewöhnliche und großzügige Aktion aufmerksam, besonders aus Deutschland kommen zahlreiche Anfragen über die Durchführung der Aktion.

Zäsur

1934 ist auch damit Schluss, die Austrofaschisten schaffen das kostenkose Säuglings­wäsche­paket für alle ab. Fortan wird Säuglingswäsche von der „Mütter- und Kinderhilfe“ nur noch an „bedürftige werdende Mütter“ abgegeben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kann die Aktion wieder aufgenommen werden. Die ersten Pakete werden 1947 verteilt, zunächst allerdings nur an die bedürftigsten Familien – insgesamt etwa 250 pro Monat. Erst ein Gemeinderatsbeschluss vom 16. Juli 1948 ermöglicht es, die Gratispakete wieder allen Müttern zukommen zu lassen.

Ein Wäschepaket beinhaltet damals zehn Windeln, zwei Flanelle, eine Wolljacke, vier Hemden, vier Jäckchen, einen Strampelanzug, eine Gummieinlage sowie eine Garnitur mit Hautpulver, Hautcreme und Seife. 1956 kann der damalige Bürger­meister Franz Jonas das achtzigtausendste Säuglingswäschepaket seit der Wiedereinführung überreichen.

 

Heute erhalten die Wiener Eltern von der MAG ELF einen Wickelrucksack, der um Beigaben von anderen Magistratsabteilungen (MA 10 - Wiener Kindergärten, MA 13 - Bildung und Jugend) sowie Produktproben und Gutscheinen von verschiedenen Firmen ergänzt ist.

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

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