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0140 | 27. JANUAR 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Erlebnisse eines Kämpfers

Am 27. Januar 1844 kommt Andreas Scheu in Wien-Margareten in einer kinder­reichen Handwerkerfamilie zur Welt. Er und seine beiden Brüder Josef und Heinrich werden später zu den Pionieren der österreichischen Arbeiter­bewegung gehören.

Andreas Scheu ist gelernter Vergolder. 1867 tritt er dem Arbeiterbildungsverein Gumpendorf bei, der als ein Vorläufer der Sozialdemokratischen Arbeiter­partei gilt, und macht als begabter Agitator bei zahlreichen Versammlungen bald von sich reden.

1869 wird er Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation um Karl Marx und nimmt im selben Jahr am Eisenacher Parteitag der deutschen Sozialdemokratie teil, bei dem auf Initia­tive August Bebels und Wilhelm Liebknechts die deutsche Sozialdemokratische Arbeiter­­partei, Vorläuferin der heutigen SPD, gegründet wird.

Doch was ist Politik ohne Propaganda? Zu Beginn des Jahres 1870 initiiert Andreas Scheu das sozialdemokratische Wochenblatt Volkswille mit einer Auflage von 6.000 Stück.

Ein politischer Prozess

Wegen einer bereits im Dezember 1869 vom Arbeiterbildungsverein abgehaltenen Protest­kund­gebung vor dem Reichsratsgebäude, an der etwa 20.000 Personen teilnahmen und politi­sche Rechte einforderten, werden Scheu und 13 seiner Mitstreiter verhaftet und im Juli 1870 im Wiener Hochverratsprozess wegen „staatsgefährdender“ Gesinnung vor Gericht gestellt.

Andreas Scheu fasst eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren aus, die meisten Arbeiter­bildungsvereine werden von den Behörden aufgelöst. Andreas' jüngerer Bruder Heinrich übernimmt interimistisch die Herausgabe des Volkswillens.

Nachdem die Proteste und Krawalle nicht abflauen, beschließt die Regierung ein neues Koalitions­gesetz. In der Folge werden alle Verurteilten bereits 1871 amnestiert.

„Dieb, Judas, Schandbeule“

Interne Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der noch weitgehend unorganisierten Arbeiterbewegung, die von behördlichen Schikanen und polizeilichen Spitzeln befeuert werden, führen schon bald darauf zu einer Spaltung in eine gemäßigte Fraktion um Heinrich Oberwinder, die auf eine Kooperation mit den bürgerlichen Liberalen dringt, und der Gruppe um Andreas Scheu, die sich, von Lassalle kommend, verstärkt den Theorien Marx’ zuwendet.

Es kommt, wie Ludwig Brügel in seiner monumentalen Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie schreibt, zu „Zwistigkeiten und Hader unter den führenden Personen im Proletariat“. Und aus dem – zunächst persönlichen – Zerwürfnis zwischen Oberwinder und Scheu entsteht eine prinzipielle Spaltung, „hie Gemäßigte, hie Radikale“.

In öffentlichen Versammlungen und den Presseprodukten der jeweiligen Gruppierungen – beide Strömungen verfügen über regelmäßig erscheinende, meist aber nur kurzlebige Zeitschriften – werden „wahre Schmähkübel aufeinander entleert“.

Oberwinder sieht sich mit Vorwürfen wie „Verrat, Annahme von Geld der Regierung für seine Zeitung und anderes“ konfrontiert und wird in einem Artikel sogar als „Hauptfeigling, Betrüger, Dieb, Judas, Schandbeule“ bezeichnet. Bei den gegenseitigen Anfeindungen und Verdächtigungen ist von finanziellen Unkorrektheiten, überhöhten Honoraren für Vorträge oder Redaktions­tätigkeiten, Bestechlichkeit, ja sogar von Spitzeltätigkeit die Rede und nicht wenige Versammlungen der einen oder anderen Richtung verlaufen „äußerst hitzig und sehr animos“. Brügel berichtet, die Polizei hätte „selbst in den intimsten Parteizirkeln ihre zweifellos bezahlten Konfidenten“ gehabt, weshalb die Behörden sich ob der Zerstrittenheit der österreichischen Arbeiter­bewegung „ins Fäustchen lachen“ konnten.

Wiener Neustadt, Zentrum der Arbeiterbewegung

Im Mai 1873 übernimmt Scheu die drei Jahre zuvor in Wiener Neustadt als liberal-demokratisches und antiklerikales Blatt gegründete, seit 1872 allerdings dezidiert sozialdemokratischeGleichheit und schafft es durch seine radikalen Artikel, deren Auflage deutlich zu steigern.

1874 ist Scheu auch feder­führend am Zustandekommen des „geheimen“ Gründungspartei­tags der österreichischen Sozialdemokratie in Neudörfl bei Wiener Neustadt beteiligt, bei dem 74 Delegierte ein erstes sozialistisches Programm auf der Basis der Ideen von Marx und Engels verabschieden. Die Gleichheit wird zum „Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Oesterreich“ und bildet ein Gegengewicht zu den „gemäßigten“ Blättern Volkswille, Die Zeit und Agitator, allesamt herausgegeben von Heinrich Oberwinder.

Emigration und Neubeginn

Nach einer neuerlichen Verhaftung emigriert Scheu allerdings noch im selben Jahr nach England, wo er sich der englischen Arbeiterbewegung anschließt und 1889 als deren Vertreter am ersten Sozialistenkongress in Paris teilnimmt. Scheu ist auch Delegierter beim internationalen Sozialistenkongress in Zürich im Jahr 1893, wo er auf seine beiden Brüder trifft. Heinrich Scheu vertritt die Schweizer Arbeiter und der ältere Bruder Josef Scheu ist Mitglied der österreichischen Delegation.

In England zählt Scheu zeitweise zu den Mitarbeitern des aus Augsburg stammenden Johann „John“ Most, der ebenfalls zu den Verurteilten des Wiener Hochverratsprozesses gehörte und 1878 nach London ausgewandert war. Nach einem Zerwürfnis mit der deutschen Sozialdemokratie wendet sich der stets dem radikalen linken Flügel angehörige Most allerdings dem Anarchismus zu.

Die Presseorgane der Sozialdemokratie waren mehr als nur ein Sprachrohr der Partei, vielmehr waren sie die Partei.Marion Gusel, 1991

Andreas Scheu hingegen bleibt Sozialdemokrat marxistischer Ausrichtung. 1881 gehört er zu den Mitbegründern der ersten sozialdemokratischen Partei Großbritanniens, der „Social Democratic Federation“, so wie drei Jahre später zu deren Abspaltung, der „Socialist League“. Mit der österreichischen Sozialdemokratie bleibt Scheu weiterhin in Kontakt und ist auch als Korrespondent für die Gleichheit und die Arbeiter-Zeitung tätig.

1907 noch englischer Delegierter beim Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart,  übersiedelt Andreas Scheu 1912 nach Weimar und 1914 weiter in die Schweiz, wo er zu den prononciertesten Kriegs­gegnern gehört. In der Schweiz widmet er sich bis zu seinem Tod am 29. August 1927 schriftstellerischen Arbeiten und verfasst u.a. das autobiographische Werk „Umsturzkeime. Erlebnisse eines Kämpfers“.

Werk
Der Wiener Hochverratsprozeß. Bericht über die Schwurgerichtsverhandlung gegen Andreas Scheu, Heinrich Oberwinder, Johann Most und Genossen, 1911; Umsturzkeime, 1923.
Literatur
Andrea Bogad-Radatz, Andreas Scheu (1844-1927). Agitator und Sozialkritiker der österreichischen und englischen Arbeiterbewegung, 1989; Herbert Steiner, Die Brüder Scheu, 1968.

PRESSE UND PROLETARIAT

Sozialdemokratische Zeitungen im Roten Wien

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