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0143 | 28. FEBRUAR 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Genial, aber gescheitert

Am 28. Februar 1929 scheidet Clemens Pirquet gemeinsam mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben.

Mit dem Namen Pirquet war ein Begriff, ein Programm verbunden. Er hat die Säuglings- und Kinderpflege, die Ernährung des Kindes völlig neugestaltet.Illustrierte Kronen-Zeitung

Clemens Peter Freiherr Pirquet von Cesenatico wird 1874 in Hirschstetten bei Wien als Sproß einer alten belgischen Patrizierfamilie geboren, die Ende des 18. Jahrhunderts in den Dienst der Habsburgermonarchie eingetreten war. Clemens Vater Peter Zeno von Pirquet ist Reichsrats- und Landtags­abgeordneter der „Landeigner-Partei“ im österrei­chi­schen Parlament, seine Mutter, Flora Freiin von Pereira-Arnstein, entstammt einer berühmten jüdischen Wiener Bankiersfamilie.

Gemäß dem Wunsch seiner Eltern studiert Clemens Pirquet zunächst Theologie, wechselt allerdings, sehr zu deren Widerwillen, die den Arztberuf für nicht standesgemäß erachten, nach zwei Jahren zur Medizin und wird im Jahr 1900 in Graz promoviert.

Der „Entdecker“ der Allergie

Pirquet erhält eine pädiatrische Ausbildung an der Berliner Charité. In Berlin lernt er auch seine spätere Frau Maria Christine van Husen kennen. 1902 wechselt er als Assistent des renommierten Kinderarztes und Bakteriologen Theodor Escherich an das St. Anna Kinderspital in Wien. 1908 folgt Pirquet einem Ruf in die USA, wo er zwei Jahre lang als Professor der Kinderheilkunde an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore wirkt.

Bereits als Sekundararzt legt Clemens Pirquet 1903 seine „Theorie der Infektions­krankheiten“ vor. Als Ergebnis seiner Forschungen über die auch als „Krankheit des 14. Tages“ bezeichnete „Serum­krankheit“, eine verzögerte Überempfindlichkeitsreaktion des Immunsystems, führt Pirquet 1906 den Begriff der „Allergie“ in die medizinische Fachsprache ein, abgeleitet aus dem Griechischen allos (andere) und ergon (Arbeit).

Ein wahrer Menschenfreund

Im Jahr darauf entwickelt von Pirquet an der Kinderklinik eine Methode zur Frühdiagnose der in Wien besonders weit verbreiteten Tuberkulose, den Tuberkulin-Hauttest. Diese „Pirquet-Probe“ trägt wesentlich zum Fürsorge- und Wohlfahrts­wesen im Roten Wien unter Julius Tandler und zu dessen erfolgreicher Bekämpfung der Tuberkulose­ bei. Für diese Leistung wird Pirquet mehrfach für den Nobelpreis nominiert, in die engere Auswahl des Nobelkomitees kommt er jedoch nie.

Sein Schüler und späterer Assistent Franz von Gröer beschreibt Pirquet in der Wiener Klinischen Wochenschrift 1929 folgendermaßen: So wurde dieser, stets entgegenkommende, unendlich geduldige, gleichmäßige Fröhlichkeit mit eiserner Willenskraft verknüpfende, in seiner Größe stets bescheidene, ethisch so hoch stehende Mann von allen seinen Schülern, Ärzten, Schwestern gleich vergöttert.

Seinen jungen Patienten liest er selbst aus Kinderbüchern vor, erzählt ihnen Märchen und Geschichten, bringt ihnen Lieder bei und veranstaltet Feste für sie.

Revolution der Kinderheilkunde

1911 übernimmt Clemens Pirquet den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der neu eingerichteten Universitäts-Kinderklinik in Wien, an der er eine heilpädagogische Abteilung gründet, die sich als erste weltweit mit der klinischen Forschung an und der Behandlung von hirnorganischen Schädigungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern beschäftigt. Außerdem setzt er neue Maßstäbe in der Hygiene und der Ausbildung von Krankenschwestern und Kinderärzten. Er verfügt, dass alle angehenden Ärzte an seiner Klinik auch ein Krankenpflegepraktikum absolvieren müssen, um selbst Einblicke in die Probleme der Pflege zu erhalten. Damit sollte die Zusammenarbeit zwischen Pflegepersonal und Ärzten verbessert werden.

Hier entwickelt Pirquet auch das sogenannte „NEM-Ernährungs­system“ (NEM = Nähreinheit-Milch, 1 NEM = 1 g Milch) für unterernährte Kinder, das zwischen 1919 und 1921 die Grundlage für die großangelegten Kinderaus­speisungen der amerikanischen Kinderhilfs­organisation ARA – American Relief Administration bilden sollte. Clemens Pirquet wird wegen seines Engagements auch zum Vorsitzenden des Völkerbundkomitees für Säuglingsfürsorge gewählt.

Auch das seit 1970 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) international gebräuchliche Zahnschema („Tooth numbering system“), das die Zähne numerisch mit einem Zwei-Ziffern-System benennt, geht auf eine von Pirquet bereits 1924 entwickelte Idee zurück.

In den 1920er Jahren genießt Pirquet derart hohes Ansehen, dass er 1928 sogar als Nachfolger von Michael Hainisch für das Amt des Bundes­präsidenten genannt wird.

Allen Kindern, die in dieser neuen Anlage wohnen, allen, die hier aufgezogen werden, wünschen wir, daß sie nie des Arztes bedürfen, […] daß die für die Wiener Jugend gefährlichste Krankheit, die Tuberkulose, gebannt sei von dieser Stätte.Karl Seitz bei der Eröffnung des Pirquethofes

Betrauert und geehrt

Am Höhepunkt seiner Karriere nimmt sich Clemens Pirquet im Alter von 54 Jahren gemeinsam mit seiner vermutlich unheilbar kranken Frau durch die Einnahme von Zyanid das Leben. Beide werden am 5. März 1929 in einem Ehrengrab der Gemeinde Wien am Zentralfriedhof beigesetzt. Im Andenken an Professor Pirquet beschließt die Gemeinde die Benennung des Pirquethofes in Ottakring, die feierliche Eröffnung findet am 3. April 1932 statt.

Sein langjähriger Rivale und Nachfolger Franz Hamburger, ein glühender Nationalist und späteres Mitglied der NSDAP, schafft viele der von Pirquet eingeführten Neuerungen wieder ab.

In der Person von Clemens Pirquet verbindet sich wissenschaftliche Erkenntnis mit großem sozialen Engagement – in einer Zeit, in der das Fürsorge- und Wohlfahrtswesen im Roten Wien noch in den Kinderschuhen steckt.

1974 wird die Pirquetgasse im 22. Bezirk, wo die Familie Pirquet seit 1868 das Schloss Hirschstetten besaß, nach dem Kinderarzt benannt. Die dortige Pirquetschule wird 2016 eröffnet.

Werk: Die Serumkrankheit, 1905 (mit Bela Schick); Klinische Studien über Vakzination und vakzinale Allergie, 1907; System der Ernährung, 1919. Volksgesundheit im Krieg. Zwei Bände, 1926.

Literatur: Gabriele Dorffner: Clemens Freiherr von Pirquet. Ein begnadeter Arzt und genialer Geist, 2004.

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