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Aktuelle Seite: „Heute ist Frühlingsfest!“
0113 | 1. JUNI 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Heute ist Frühlingsfest!“

Am Fronleichnamstag, dem 31. Mai 1923, sowie am darauf­folgenden Sonntag veranstaltet der sozialdemokratische Erziehungs- und Schulverein Freie Schule-Kinderfreunde erstmals wienweite Frühlingsfeiern.

Die Arbeiter-Zeitung berichtet in den Tagen darauf ausführlich über das sozialdemokratische Frühlingsfest. Hoffnungsfrohe Jugend, die nun nicht mehr dem Bimbam der Kirchenglocken folgte, sondern die vorbei an dem falschen Frühlingszauber aufgestreuten Grases und aufgestellter Zweige ins wirkliche Grün hinauszog. Mit dabei die Frauen, die Freidenker und die Vertreter der politischen Organisationen, die Arbeiterturner, -sänger und  -musiker, die Arbeiterkinderturner in weißen Leibchen, die tschechischen Kinder mit roten Halsbinden, alle flankiert von den stets bereiten Ordnern.

In Margareten konnten die vielen Zuschauer Vergleiche ziehenzwischen der alten und der neuen Zeit, denn durch unsere Ordnerkette reinlich geschieden, passierten die beiden Züge aneinander vorbei. Der Zug der Freien Schule-Kinderfreunde schier endlos und alle Gesichter voll Freude [...] und daneben: ein kleines Häuflein, still, ohne Wort, fast gespenstisch: ein Frühlingsfestzug mit dem Gesicht eines Leichenzuges.

Die christlich-soziale Reichspost spricht von „organisiertem Kindesmissbrauch zu Religions­störungen“ und schreibt am Tag nach dem kirchlichen Fest von einer „imposanten Glaubens­kundgebung“ und einer Beteiligung, „wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde“. 

Mit klarem Verstand ohne Weihrauchnebel

Erste, vereinzelte Frühlingsfeste wurden bereits im Jahr zuvor abgehalten. Am 21. Juni 1922 schildert die Arbeiter-Zeitung die wütenden Reaktionen der Klerikalen und fragt, ob man den Kindern jetzt einen Vierer in Betragen geben oder sie etwa vor Gericht stellen werde. Oder sollte am Ende die Macht der Pfaffen trotz der Prälatenregierung nicht einmal so weit gehen und ihnen wirklich nichts anderes gegen solche Ruchlosigkeit übrig bleiben, als vor Wut zu platzen?

In den darauffolgenden Jahren entwickeln sich die Frühlingsfeste der Kinderfreunde, die stets zu Fronleichnam und am darauffolgenden Sonntag stattfinden, zu einer politischen Macht­demonstration und einem regelrechten Wettbewerb, der mitunter groteske Züge annimmt.

1925 vermeldet die Arbeiter-Zeitung, die nun vom „Tag des proletarischen Kindes“spricht, wie die Kirche im roten Favoriten alles aufgeboten hatte, um zu ihrem Umgang möglichst viele Kinder zu bekommen, und besonders die Mädels waren es, auf die sie es abgesehen hatte. Weiße Kleider und grüne Kränzel im Haar, das sollte die Kinder anlocken, und dieses altbewährte Mittel, die Eitelkeit der Mütter und Kinder zu kitzeln, hat auch diesmal nicht fehlgeschlagen.

Minutenmaße!

1928 titelt die Unzufriedene: Fünf Jahre Wiener Frühlingsfest und rechnet vor, dass etwa der Zug der Favoritner Kinderfreunde im Jahr 1923 nur sieben Minuten gedauert habe, jener der Kirche hingegen ganze 32. Im Jahr 1928 habe sich das Verhältnis gedreht: 60 zu 35.

Die Auseinandersetzung führt sogar soweit, dass Unterrichtsminister Richard Schmitz den Platz im Fasangarten sperren lässt, nur um das Fest der Kinderfreunde in Meidling zu verhindern.

1932 zählt das Kleine Blatt insgesamt zweihunderttausend Teilnehmer, die zusammen einen 25 Kilometer langen Zug gebildet hätten. Und: Alle Feste seien selbstverständlich alkoholfrei gewesen!

Im Frühling 1933 schreibt die mittlerweile unter Vorzensur stehende Arbeiter-Zeitung: Der Verein Freie Schule-Kinderfreunde feiert heuer zum zehnten Male den Tag des proletarischen Kindes. Allerdings sind alle Umzüge bereits verboten, die Frühlingsfeste werden auf Festplätze verlegt.

Das Proletariat braucht eigene Feste

Das sozialistische Frühlingsfest ist von Beginn an als antiklerikale Gegenveranstaltung zur Fronleichnamsprozession angelegt – auch wenn führende Funktionäre wie Anton Tesarek immer wieder betonen, dass aggressive Untertöne gegen die Kirche bei solchen Feiern unterlassen werden sollten.   

Ab den 1920er Jahren bemüht sich die Sozialdemokratie, einen „proletarischen Festtagskalender“ als Gegengewicht zu den religiösen Fest- und Feiertagen zu etablieren: Im Januar wird der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs im Jahr 1919 gedacht, als Faschings­ersatz gibt es die „Fröhliche Feier“, im März folgt das Gedenken an die gescheiterte Revolution von 1848 und ihre Märtyrer. Höhepunkt ist natürlich der Fest- und Feiertag der Arbeiterschaft, der 1. Mai.

Auf die „Frühlings- und Jugend­feiern“, die auch als Gegenstück zur katholischen Firmung für sozialistische Jugendaktivistinnen und -aktivisten gedacht sind, folgen die Trauerfeier für die Opfer des 15. Juli 1927 und die „Nie-Wieder-Krieg-Feier“. Im November gedenkt man des Gründungstages der Republik und zum Jahreswechsel schließlich soll eine „Winter­sonnenwendfeier“ das traditionelle Weihnachtsfest ersetzen.

Zur feierlichen Gestaltung dieser Feste bietet die sozialdemo­kratische Bildungszentrale umfangreiche Arbeitshilfen an – Gedichte, Erzählungen, Sprechchöre, Spiele, Szenen, vorgefertigte Festreden und Ansprachen, Lieder, Vorlese- und Rezitationsmaterial können hier angefordert werden. Der Anspruch, einen eigenen proletarischen Festtagskalender zu schaffen, kann allerdings in der kurzen Zeit der Ersten Republik und vor dem Hintergrund einer zum Teil jahrhundertealten christlichen Tradition nicht verwirklicht werden.

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