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0096 | 17. JANUAR 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Pazifist und General


Am 17. Januar 1968 stirbt Julius Deutsch, der ehemalige Leiter des Republikanischen Schutzbundes, in Wien.

Julius Deutsch wird 1884 im burgenländischen und damals zum Königreich Ungarn gehörenden Lackenbach geboren und wächst in eher ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern führen ein Wirtshaus; Ende der 1880er Jahre übersiedelt die jüdischstämmige Familie nach Wien. Die Mutter verstirbt früh an der Volksseuche TBC, der Vater ist nach einem Arbeitsunfall Invalide.

Deutsch tritt nach der Bürgerschule als Lehrling in eine Druckerei ein, wechselt aber bald in eine Schmuckfedern­fabrik in Mariahilf. Dort kommt er mit der jungen Arbeiterbewegung in Kontakt, besucht Vorträge im Rahmen der Arbeiterbildung und tritt dem 1894 gegründeten Verein jugendlicher Arbeiter bei. Die Reifeprüfung legt er als sogenannter Externer ab und finanziert sich als Handelsreisender ein Studium der Staatswissen­schaften, das er 1908 in Zürich mit dem Doktortitel abschließt.

Ab 1909 ist Julius Deutsch im Zentralsekretariat der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im neu errichteten Vorwärts-Gebäude tätig und macht durch sein organisatorisches Talent auf sich aufmerksam. 1914 wird er Redakteur der im selben Haus angesiedelten Arbeiter-Zeitung.

Ein „Friedliebender“ wird Soldat

Innerhalb der Sozialdemokratie zählt Deutsch zu den wenigen, die von Anfang an gegen den Krieg auftreten. 1915 muss er als Einjährig-Freiwilliger zur k.u.k. Armee einrücken und wird 1916 zum Leutnant der Reserve befördert. Seine Erfahrungen an den Fronten in Südtirol, in Galizien und Rumänien hält er in „Kriegserlebnisse eines Friedliebenden“ fest.

1917 wird Julius Deutsch als sozialpolitischer Referent und Gewerkschafts­vertreter in die Kriegswirtschaftliche Abteilung des Kriegsministeriums beordert, wo er sich um den Aufbau einer Organisation sozialdemokratischer Vertrauensmänner innerhalb der Wiener Garnison bemüht. Es ist die Keimzelle der späteren „Deutschösterreichischen Volkswehr“ und des Republikanischen Schutzbundes.

Nach Ausrufung der Republik wird Deutsch auf Vorschlag der SDAP zunächst Unterstaatssekretär und später Staatssekretär im Staatsamt für das Heerwesen. Sein erklärtes Ziel ist es, aus den abgerüsteten Resten der alten Armee ein neues republikanisches Heer aufzustellen. Da der Vertrag von Saint-Germain nur die Errichtung eines kleinen Berufsheeres gestattet, wird die Volkswehr bald wieder aufgelöst; viele ihrer Mitglieder schließen sich in der Folge dem Republikanischen Schutzbund an. Auf dessen erster Vorstandssitzung im März 1923 wird Julius Deutsch zum Obmann gewählt und übernimmt die militärische Führung.

Die Arbeiterbewegung will den Weg zum Sozialismus friedlich zurücklegen. Die Ordnerorganisation soll dazu beitragen, dass dieser Weg von den faschistischen Wegelagerern freigehalten wird.

Erziehungssport oder Wehrsport?

Der Schutzbund, der zunächst vor allem als Ordnerorganisation für Großveranstaltungen der Partei auftritt, versteht sich zunehmend als Verteidiger der demokratischen Errungenschaften und als Gegenpol zu den rechtsgerichteten Frontkämpfern und den christlichsozialen Heimwehren. Die Angehörigen des Schutzbundes erhalten eine militärische Ausbildung und werden mit Waffen versorgt. 1928 zählt der Republikanische Schutzbund etwa 80.000 aktive Mitglieder.

Daneben ist Julius Deutsch auch Vorsitzender des Österreichischen Arbeiterbundes für Sport und Körperkultur (ASKÖ); sein Stellvertreter ist der Stadtrat für das Wohlfahrtswesen Julius Tandler – Konflikte, ob sich der Sportbund mehr dem „Erziehungssport“ oder dem „Kampfsport“ widmen solle, sind somit vorprogrammiert.

Als am 1. Mai 1932 die Arbeiter­turner – statt am Rathausplatz als Athleten aufzutreten – zu Darbietungen des Schutzbundes ins Stadion abkommandiert werden, schreibt Tandler an Deutsch: Wo am 1. Mai die feindseligen Handlungen unserer Gegner im Stadion sein werden, weiß ich nicht…

Niederlage über Niederlage

Am 31. März 1933 verfügt die Regierung Dollfuß die Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, der fortan nur noch in der Illegalität aktiv ist. Viele seiner führenden Mitglieder werden noch im selben Jahr in Haft genommen – mit ein Grund, warum der Schutzbund im Februar 1934 chancenlos gegen die Übermacht von Militär, Polizei und Heimwehren ist.

Nach dem Scheitern des Widerstandes flieht Deutsch, der gemeinsam mit Otto Bauer vom Ahornhof in Favoriten aus vergeblich versucht hatte, den Kampf der Arbeiterschaft zu organisieren, in die benachbarte Tschechoslowakei und baut hier, gemeinsam mit Bauer, das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) auf. Viele enttäuschte Parteimitglieder werfen ihnen das Versagen in der politischen bzw. militärischen Leitung vor und interpretieren ihre Flucht als Feigheit.

Julius Deutschs Sohn Gustav emigriert wie andere Schutzbündler auch im Mai 1934 in die Sowjetunion, wo er zunächst als Eisenbahningenieur arbeitet. 1938 wird er gemeinsam mit seiner Frau verhaftet und eines der unzähligen Opfer des stalinistischen Terrors.

Kämpfer an allen Fronten

Deshalb erachten wir eine auf die körperliche Ertüchtigung gerichtete Erziehung, eine Erziehung zur Wehrhaftigkeit, für das Gebot der Stunde. […] Darum liegt in jeder Art körperlicher Ertüchtigung, im Turnen wie im Wandern und Schwimmen, ein beträchtliches Stück revolutionärer Kraft.

Als im Sommer 1936 der spanische Bürgerkrieg ausbricht, meldet sich Julius Deutsch freiwillig. Er wird dem republikanischen Generalstab zugeteilt, zum General befördert und mit der Organisation der Küstenverteidigung von der französischen Grenze bis nach Malaga betraut. Im Auftrag der republikanischen Regierung unternimmt er mehrere Reisen nach Paris, London, Brüssel und Schweden und bittet um Unterstützung – allerdings ohne nennenswerten Erfolg.

Nach der Niederlage der Republikaner lebt Julius Deutsch bis zum Juni 1940 in Frankreich. Auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht gelangt er über England und Kuba nach New York. Hier tritt er dem sozialdemokratischen Austrian Labor Committee (ALC) bei und setzt sich für die Wiederherstellung eines selbständigen Staates Österreich ein.

Im Abseits

1946 kehrt Julius Deutsch als einer der wenigen jüdischen Vertriebenen nach Österreich zurück. Er organisiert den Zusammenschluss der parteinahen Verlage, Druckereien, Zeitungen und Buchhandlungen und übernimmt die Leitung des Vorwärts-Verlags. Politisch kann er allerdings nicht mehr Fuß fassen.

Deutsch kritisiert, dass die SPÖ im Regierungsbündnis mit der ÖVP eine „rechte Politik“ betreibe und die großen Traditionen der Arbeiterbewegung preisgegeben habe. Nach wiederholten Konflikten mit der Parteiführung legt er 1951 alle Funktionen zurück.

Im selben Jahr heiratet er die Schriftstellerin Adrienne Thomas, die er im amerikanischen Exil kennengelernt hatte und die nur seinetwegen nach Wien zurückgekehrt war. Sie wäre, meint Adrienne Thomas später, „lieber zu den Hottentotten“ gegangen, als zurück nach Wien.

Julius Deutsch bleibt weiterhin als politischer Autor tätig und veröffentlicht 1960 seine Autobiografie „Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen“.

Die in den Jahren 1952/53 errichtete Wohnhausanlage in der Grinzinger Allee 54 im 19. Bezirk wird 1989 Julius-Deutsch-Hof benannt. Unweit davon, am Grinzinger Friedhof, sind er und Adrienne Thomas bestattet.

Schriften (Auswahl)
Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, 1908; Wehrmacht und Sozialdemokratie, 1927; Unter roten Fahnen. Vom Rekord- zum Massensport, 1931; Der Bürgerkrieg in Österreich. Eine Darstellung von Mitkämpfern und Augenzeugen, 1934; Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, 1947; Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen, 1960; Kriegserlebnisse eines Friedliebenden. Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Herausgegeben von Michaela Maier und Georg Spitaler, 2016.

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