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Aktuelle Seite: Schluss mit Dollfuss-Oesterreich!
0104 | 15. MÄRZ 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Schluss mit Dollfuss-Oesterreich!“


Mit dieser Schlagzeile erscheint am 15. März 1938 in Paris die allerletzte Nummer der traditionsreichen Arbeiter-Zeitung – fertiggestellt noch vor dem sogenannten Anschluss.

Die 1889 von Victor Adler gegründete Arbeiter-Zeitung, die bereits seit 1933 einer verschärften Vorzensur und Kolportageein­schränkungen ausgesetzt war, wird unmittelbar nach dem Ausbruch der Februarkämpfe verboten, der Verlagssitz im Vorwärtshaus von der Heimwehr besetzt.

Ernst Paul, Vorsitzender der Republikanischen Wehr der sudetendeutschen Sozial­demo­kratie, bringt Otto Bauer nach dessen Flucht aus dem umzingelten Ahorn­hof nach Bratislava in Sicherheit. Wenige Tage nach dem Ende der Kämpfe entsteht in Brünn das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS), das von Otto Bauer und Julius Deutsch geleitet wird und als Sitz der emigrierten Sozialdemokraten fungiert.

Das ALÖS will nicht etwa eine neue Parteiführung sein. Die neue Parteileitung wird vielmehr aus den in Österreich tätigen Genossen gebildet werden müssen [...]. Das ALÖS stellt sich die Aufgabe, den Kampf der Genossen in Österreich durch Sendung von Zeitungen, von Flugschriften und Broschüren zu unterstützen. Otto Bauer

Während das Auslandsbüro weiterhin für eine reformistische Politik eintritt, organisieren sich viele der in Österreich verbliebenen Parteimitglieder in der Gruppe der illegalen Revolutionären Sozialisten und arbeiten fortan enger mit den Kommunisten zusammen.

Nach dem Kampf!

Mit Unterstützung der Konsum­genossenschaft Včela und des Brünner Stadtrates Wenzel Kovanda können die Exilanten einige Räume im Haus der Genossenschaft beziehen. Bereits am 25. Februar 1934 erscheint die erste, nun kleinformatige, Ausgabe der Arbeiter-Zeitung – beginnend mit Nr. 1, und dem Untertitel „Organ der österreichischen Sozialdemokraten“ sowie dem Zusatz „Erscheint wöchentlich".

Geschrieben und redigiert wird das Exilblatt von Otto Bauer nahezu im Alleingang; kurzzeitig übernehmen auch Oscar Pollak und Otto Leichter redaktionelle Aufgaben.

Die Auflage liegt im ersten Jahr bei mehr als 50.000 Stück, später sinkt sie auf rund 15.000. Die Korrespondenzen werden in Wien hergestellt; sie sind verschlüsselt und ihre Texte auf den ersten Blick „sinnlos“. Zur Entschlüsselung dienen eigene „Wörterbücher“; auch chemische Tinte kommt zum Einsatz. Gedruckt wird meist in der Tschechoslowakei, mitunter – aufgrund von Transportproblemen – auch in klandestinen Wiener Druckereien.

„Unter den Kohlen im Tender versteckt“

Die Zeitungen werden durch Freiwillige, später auch durch bezahlte Profis nach Österreich geschmuggelt, per Bahn, „unter den Kohlen im Tender versteckt“, getarnt als Fleisch- oder Gemüsetransporte, als Fracht in Stoffballen, aber auch mit Booten über die March. Vertrieben werden die Zeitungen durch geheime Kolportage, ehemalige Schutzbund­mitglieder, Arbeitersportler und unverdächtige Jugendliche. Das Blatt erscheint zunächst wöchentlich, ab November 1936 nur noch vierzehntägig. Neben dem kleinformatigen Wochenblatt wird ab 12. Mai 1935 auch eine für die Bundesländer bestimmte vierzehntägige Ausgabe produziert.

Über die Schmuggeltätigkeit des ALÖS geben die sogenannten „Expeditionsbücher“ von Josef Pleyl Auskunft, der für den Vertrieb der Druckwerke zuständig ist. Gegen alle Regeln konspirativer Tätigkeit dokumentiert Pleyl penibel Auflagenhöhe, Transportwege, Transporteure, Absatzgebiet, Gewicht und weitere Daten für die Jahre 1934 bis 1937. Für den Schmuggel werden sogar eigene „Grenzstellen“ in Bratislava, Znaim, Neu-Bistritz (Nová Bystřice) und České Velenice (bei Gmünd) errichtet.

Aus Pleyls Aufzeichnungen geht hervor, dass insgesamt 752.898 Exemplare der Arbeiter-Zeitung, mehr als 1,7 Millionen Aufkleber und Streuzettel, 37.000 Broschüren, 41.000 Flugzettel und 5.643 Exemplare des theoretischen Organs Der Kampf nach Österreich geschmuggelt werden. Nur etwa sechs Prozent des Materials wird von den österreichischen Behörden abgefangen.

Die Arbeiter-Zeitung erscheint in Paris

Nach wiederholten Interventionen der österreichischen Bundes­regierung versuchen die tschechischen Behörden, diese Aktivitäten zu unterbinden. In der Ausgabe vom 22. November 1936 gibt die Redaktion bekannt, dass die Tschechoslowakische Republik die Produktion des Blattes nicht mehr gestatte. Dessen ungeachtet erscheinen noch weitere Ausgaben am 25. November, am 12. und 20. Dezember 1936 sowie in unregelmäßiger Folge auch noch Anfang 1937.

Schließlich drohen die tschechischen Behörden mit dem Entzug des Asylrechts. Otto Bauer wird am 1. März 1937 in die örtliche Polizeidirektion zitiert und muss ein Protokoll mit folgendem Wortlaut unterfertigen: 

Herr Dr. Otto Bauer als führende Persönlichkeit der österreichischen sozialdemokratischen Emigration in Brünn wird aufmerksam gemacht, dass, falls nur noch einmal festgestellt werden sollte, dass die Arbeiter-Zeitung oder irgend eine andere von der österreichischen sozialdemokratischen Emigration herausgegebene Zeitschrift nach Österreich versandt wird, die ganze österreichische Emigration in der ganzen Republik zerschlagen wird.

Um dem zuvorzukommen, weist die Arbeiter-Zeitung ab dem 31. März 1937 „offiziell“ Paris als Erscheinungsort aus. Tatsächlich wird aber nur die für das Ausland bestimmte Auflage in Paris hergestellt, ab dem 12. Mai mit dem Zusatztitel „Journal des ouvriers“, jene für Österreich wird illegal in Česká Třebová (Böhmisch-Trübau) gedruckt bzw. ab Herbst 1937 wieder heimlich in Wien.

Ende April 1938 übersiedeln das Auslandsbüro und damit auch Otto Bauer und die Arbeiter-Zeitung tatsächlich von Brünn nach Paris.

Die handschriftlichen Originale der Expeditionsbücher befinden sich unter den Akten-Signaturen 6800/a bis 6800/h im DÖW.

PRESSE UND PROLETARIAT

Sozialdemokratische Zeitungen im Roten Wien

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