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Aktuelle Seite: „Teure Amalia, vielgeliebtes Weib“
0139 | 19. JANUAR 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Teure Amalia, vielgeliebtes Weib“


Am 19. Januar 1984 stirbt der aus Österreich stammende Schriftsteller und Kabarettist Robert Ehrenzweig in London.

Der im Jahr 1904 in kleinen Verhältnissen in der Leopoldstadt geborene Ehrenzweig studiert Physik und Chemie an der Technischen Hochschule und der Universität Wien und wird 1927 promoviert. Schon als Student interessiert er sich für Journalismus und Politik, nach einem kurzen Gastspiel als Industriechemiker in Berlin kehrt er der Wissenschaft den Rücken.

An der berühmten Berliner Piscator-Bühne sammelt er erste Erfahrungen als Autor. Zurück in Wien gründet er gemeinsam mit Victor Grünbaum und anderen das Politische Kabarett, eine der Sozialdemokratie nahestehende Truppe, die die Praktiken der konservativen Bundesregierung mit scharfer Satire an den Pranger stellt. Neben Grünbaum, der als Victor Gruen in den USA die ersten modernen Einkaufs­zentren am Stadtrand planen und 1974 geistiger Vater der ersten Wiener Fußgängerzone in der Kärntner Straße werden wird, sind auch Ludwig Wagner, Mitarbeiter an der berühmten Martienthal-Studie, Jura Soyfer und Edmund Reismann Mitglieder des Autorenkollektivs, das auch vor innerparteilicher Kritik nicht zurückschreckt.

Ein Hansdampf in vielen Gassen

Für kurze Zeit arbeitet Ehrenzweig Anfang der 1930er Jahre auch als Herausgeber der Zeitschrift Die politische Bühne, dem offiziellen Organ der Roten Spieler, einer Arbeitertheater­truppe, die von Edmund Reismann geleitet wird sowie immer wieder auch als Literatur-, Film- und Radiokritiker für sozialdemokratische Medien. Seine Artikel sind in der Regel mit seinem Pseudonym Robert Lucas oder mit Kürzeln wie r.e., Rob. E., der Sonderbericht­erstatter R.E. und Neon gezeichnet.

Mitglied der SDAP wird Robert Ehrenzweig spät, erst 1929. 1930 verfasst er die Revue „Hirnschal macht Weltgeschichte“, die die Putschpläne der Österreichischen Heimwehren ironisiert. Diese literarische Figur wird von ihm im Londoner Exil zum Gefreiten Hirnschal weiterentwickelt werden.

1931 ist Robert Ehrenzweig auch für das pathetische Massenfestspiel im Praterstadion verantwortlich, das anlässlich der Zweiten Arbeiter-Olympiade aufgeführt wird und die Geschichte vom Aufstieg der Arbeiterbewegung erzählt.

Abschied für (fast)immer

Im April 1934 emigriert Robert Ehrenzweig nach England. Nur 1935 reist er noch zweimal kurz nach Wien – zur Beerdigung seines Vaters und um die Künstlerin Ida Klamka zu heiraten. In London arbeitet er zunächst als Korrespondent für die Neue Freie Presse, ist von 1938 bis 1967 Mitarbeiter des German Service der BBC, zunächst als Übersetzer, später als „Chief scriptwriter“.  

Zu einiger Berühmtheit gelangt die von Ehrenzweig geschaffene Figur des Gefreiten Hirnschal, der Feldpostbriefe an seine Frau Amalia ins heimatliche Zwieselsdorf schickt. Produziert und ausgestrahlt werden die rund einhundert Radio-Satiren von Dezember 1940 bis Kriegsende im Mai 1945 vom deutschsprachigen Londoner Rundfunk der BBC. Im letzten Kriegsjahr soll die Sendung im Deutschen Reich – trotz der davon ausgehenden Gefahr –mehrere Millionen Zuhörer verzeichnet haben.

Vorbild für die Hirnschal-Figur ist wahrscheinlich, obwohl Ehrenzweig selbst diese Interpretation stets abstritt, Jaroslav Hašeks „Der brave Soldat Schwejk“ – ein scheinbar einfältiger, in Wirklichkeit aber bauernschlauer Mann, der die Verlogenheit und Absurdität des Herrschaftssystems und des Krieges entlarvt, indem er sie beim Wort nimmt und mit der Wirklichkeit konfrontiert.

Schmerzhafte Satire

In der am 29. November 1943 ausgestrahlten Folge zum Beispiel entgegnet der Gefreite Hirnschal seinem Kameraden Emil auf dessen Vermutung, Hitler sei verrückt: Nein, Emil, unser geliebter Führer ist nicht verrückt – er weiß genau, was er will: Unser geliebter Führer bleiben, solange es nur geht, und es spielt für ihn überhaupt keine Rolle, wenn eine deutsche Stadt nach der anderen in einen Trümmerhaufen verwandelt wird, wenn Hunderttausende Geschäfte zugrunde gehen, wenn die Fabriken zerstört werden, wenn die Familien zerrissen werden, wenn die Frauen und Kinder verkommen. Für ihn spielt nur eines eine Rolle: daß er weiter der Führer bleibt, selbst wenn der Krieg weitergeht, bis in Deutschland kein Stein mehr auf dem anderen liegt und bis wir ein Volk von verhungerten, verseuchten, verluderten Bettlern sind – bis fünf Minuten nach zwölf.

Und nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 schreibt Hirnschal an seine „Teure Amalia, vielgeliebtes Weib“: Du kannst Dir die Aufregung nicht vorstellen, die wo es jetzt bei uns gibt wegen dem Anschlag auf unseren geliebten Führer, und der Hans-Joachim Blitz meint, man sollte es nicht glauben, wie plötzlich uns so ein Schicksalsschlag treffen kann, und wenn der Attentäter seine Aktenmappe nur einen Schritt weiter rechts oder einen Schritt weiter links niedergestellt hätte, dann hätten wir vielleicht heute schon den schönsten Frieden, aber zum Glück hat die Vorsehung diese Katastrophe verhindert.

Neuer Name, neues Leben

Ende 1946, nach über zehn Jahren in England, wird die Familie eingebürgert. Im Folgejahr beantragt Ehrenzweig eine Namensänderung, bei der er auf sein Pseudonym zurückgreift. Ab 1947 heißen er und seine Familienangehörigen offiziell Lucas.

In Großbritannien verfasst Robert Lucas vor allem Hörspiele, ab 1959 ist er auch als freier Mitarbeiter für Die Zeit tätig. Außerdem schreibt er eine Biographie über die deutsche Schriftstellerin Frieda von Richthofen, eine entfernte Verwandte des legendären Jagdfliegers Manfred von Richthofen, die 1912 für den britischen Romancier D. H. Lawrence ihren Mann und die drei Söhne verlässt, um fortan ein eher unstetes Leben zu führen. Hat der rast- und ruhelose Robert Ehrenzweig-Lukas in diesem späten Werk vielleicht gar seine Seelenverwandte gefunden?

Literatur: Teure Amalia Vielgeliebtes Weib! Die Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine Frau in Zwieselsdorf, Zürich 1946; Die Briefe des Gefreiten Hirnschal. BBC-Radio-Satiren 1940–1945, Frankfurt/M. 1984; Miriam Kruppa, Satire und Nationalsozialismus. Robert Lucas Briefe des Gefreiten Hirnschal an seine Frau in Zwieselsdorf, 2002; Die BBC gegen Hitler. Die Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine Frau in Zwieselsdorf, Zürich 2007; Aleksandra Kozbunarova, Vereinigung Sozialistischer Schriftsteller: Robert Lucas Ehrenzweig, Wien 2014

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