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Aktuelle Seite: Vermittlung von „Wissen, Aufklärung und Bildung“
0091 | 8. DEZEMBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Vermittlung von „Wissen, Aufklärung und Bildung“

Am 8. Dezember 1867 wird im Gasthof „Zum blauen Bock“ in der Mariahilfer Straße, der über einen beliebten Ball- und Versammlungssaal verfügt, der Arbeiter­bildungsverein Gumpendorf gegründet.

Vorbilder sind Einrichtungen der Arbeiterbildung, wie es sie in England schon seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt, sowie verschiedene deutsche Vereine, die ab den 1830er Jahren gegründet werden – so etwa der Bildungsverein der Brauereiarbeiter im fränkischen Erlangen oder der Verein der Buchhandlungsgehilfen im sächsischen Leipzig.

Ins Leben gerufen werden die ersten Arbeiterbildungsvereine zumeist von Arbeitern und Handwerkern selbst, oft unter Mitwirkung oder mit Unterstützung des liberalen Bürgertums. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Vermittlung von Bildung und Wissen, aber auch die Geselligkeit soll nicht zu kurz kommen, etwa in Form von gemeinsamen Gesang. Politische Tagesereignisse und „die soziale Frage“ spielen ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle, weshalb die Übergänge von den Bildungsvereinen zu einer frühen Form der politischen Partei fließend sind.

Die März-Revolution von 1848 führt auch in Österreich zur Entstehung einer ersten Organisation von Arbeitern. Auf Betreiben des Buchbindergesellen Friedrich Sander wird am 24. Juni 1848 der „Erste Allgemeine Arbeiterverein“ im Gasthaus Fürstenhof in der Beatrixgasse gegründet. Sein Programm lautet: Belehrung durch leichtfassliche Vorträge, Förderung der Bildung durch eine Bibliothek, Förderung der Geselligkeit durch einen Gesangsverein und Deklamationen. Nach der Niederschlagung der Revolution und der Einnahme Wiens im Oktober des Jahres wird der Verein aufgelöst, ohne dass er eine nennenswerte Aktivität entfalten konnte.

Gründung mit Anlauf

Es folgen fast zwei Jahrzehnte der Zensur, der Unterdrückung und des politischen Stillstands. Erst das am 15. November 1867 in Kraft getretene Staatsgrundgesetz eröffnet der jungen Arbeiterbewegung nach Jahren der Illegalität die Möglichkeit, sich zu organisieren. Unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes wird mit Genehmigung der Niederösterreichischen Statthalterei für den 8. Dezember eine Versammlung zur Gründung eines Wiener Arbeiterbildungsvereins einberufen. Vorbereitet wird diese Zusammenkunft von bereits existierenden Arbeiterkomitees in Gumpendorf und Schottenfeld, den damaligen Zentren der Wiener Textilindustrie. Ziel des neu zu gründenden Vereins ist es, den Arbeitern durch Vermittlung von Bildung und Fachkenntnissen das geistige Rüstzeug zu geben, ihre politische und wirtschaftliche Lage aus eigener Kraft zu verbessern.

Der Zustrom zu dieser Veranstaltung übertrifft die kühnsten Erwartungen. Der Saal erweist sich für die 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer als viel zu klein. Die Versammlung muss deshalb vertagt werden und findet eine Woche später, am 15. Dezember, in „Schwenders Colosseum“ statt. Das im Bereich der oberen Mariahilfer Straße gelegene Lokal ist das größte Vergnügungsetablissement Wiens, mit mehreren Gaststätten und Sälen für große Bälle, für Tanzveranstaltungen, aber auch für Konzerte und Theatervorstellungen.

Den größten Beifall unter den zahlreichen stimmgewaltigen Rednern erntet der Tischler Hermann Hartung: Der Grundfehler der heutigen sozialen Mißstände ist die ungleiche Verteilung des durch die Produktion neu geschaffenen Wertes. Während jeder neue Wert durch die Arbeit hervorgerufen wird, wird diese mit dem Lohne, welcher nur den dürftigsten Anforderungen der Arbeiter entspricht, abgefunden und der Reingewinn fällt dann dem Unternehmer zu. 

Ähnlich großen Applaus erhält der Buchdrucker Konrad Groß, der den Zuhörern einschärft,  daß die Besserung unserer traurigen Lage nur von unserer eigenen besseren Erkenntnis abhängt, und daß wir folglich nur, indem wir als große sozialdemokratische Partei auftreten, uns selbst helfen können. 

Staatsgefährdende Umtriebe

Im Fahrwasser des Wiener Arbeiterbildungsvereins entstehen bald weitere Vereine nach seinem Vorbild. Sie alle bieten Vorträge und Unterricht an, einige besitzen kleine Bibliotheken mit Lesezimmern; gemeinschaftliche Aktivitäten wie Sport oder Gesang spielen eine wichtige Rolle, und manche, wie der Gumpendorfer Arbeiterbildungsverein, richten auch eine Kranken- und Invaliden­kasse für ihre Mitglieder ein. Die Arbeiterbildungsvereine stehen damit am Beginn der organisierten Arbeiterbewegung in Österreich, lange vor der eigentlichen Parteigründung in Hainfeld.

Somit verfolgen die Arbeiterbildungsvereine auch politische Zwecke, obwohl dies vereins­rechtlich noch streng verboten ist. In einer Note des Ministeriums für öffentliche Sicherheit und Landesverteidigung an das Ministerium für Inneres vom 2. Juli 1869 heißt es: Die seitherige Erfahrung zeigt, daß diese Vereine [...] durchgehends den sozialdemokratischen Prinzipien Lassalles huldigen. Diese Prinzipien [...] sind im wesentlichen zweifellos politischer Natur; denn sie stellen die Selbsthilfe – insbesondere durch Gründung von Produktivassoziationen auf Staatskosten –, das allgemeine Wahlrecht und in erster Linie die Gründung der sozialdemokratischen Republik als die auf dem Wege der Agitation anzustrebenden Ziele auf und verfolgen damit unzweifelbar politische Zwecke...

In diesem Sinne ist bereits [...] die Bildung sozialdemokratischer Arbeitervereine als staatsgefährlich untersagt [...] worden.

Auf und zu

Am 13. Dezember 1869 demonstrieren die Arbeiter vor dem (provisorischen) Abgeordnetenhaus in der Währinger Straße für die Durchsetzung der Koalitionsfreiheit, also des Rechts, eigene Interessensvertretungen gründen zu dürfen. Eine Abordnung überreicht eine entsprechende Resolution an den Ministerpräsidenten Eduard Taaffe. In der Nacht zum 24. Dezember wird die Führungsriege des Wiener Arbeiterbildungsvereins jedoch verhaftet; die Exponenten werden im Juli 1870 wegen Hochverrats verurteilt, der Bildungsverein aufgelöst. Noch im selben Jahr beschließt der Reichsrat allerdings ein Koalitionsgesetz, das den Arbeitern – ebenso wie den Unternehmern – das Recht erteilt, sich zur Wahrung ihrer Interessen zusammenzuschließen. Der Arbeiterbildungsverein wird im Oktober 1870 wieder zugelassen, unter der Bedingung, keinerlei politische Aktivitäten zu entfalten.

1872 gibt es bereits 59 Arbeiterbildungsvereine und 78 Gewerkschaftsvereine mit zusammen etwa 80.000 Mitgliedern. Von den Behörden wird ihre Tätigkeit nach Kräften behindert. Die Zensur von Zeitungen, die Beschlagnahmung von Büchern und Broschüren, das Verbot von Veranstaltungen sowie Hausdurchsuchungen stehen auf der Tagesordnung. Interne Fraktionskämpfe zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“ und die 1873 einsetzende Wirtschaftskrise tragen das ihre zum Niedergang der Arbeitervereine bei.

Der Gumpendorfer Arbeiterbildungsverein wird im Mai 1876 neuerlich verboten und bereits im Oktober desselben Jahres wiederbegründet. Nach der Proklamierung des Ausnahme­zustands im Januar 1884 löst sich der Verein selbst auf, um einem neuerlichen behördlichen Verbot zuvorzukommen, das mit der Konfiskation des Vereinsvermögens verbunden gewesen wäre. Ende 1885 wird der Arbeiterbildungsverein zum vierten Mal gegründet und widmet sich in der Folgezeit vor allem der Bildungsarbeit.

Bürgerliche und proletarische Bildung

1887 gründet der Kunsthistoriker Eduard Leisching gemeinsam mit anderen den Wiener Volksbildungsverein in Margareten, um durch Vorträge, Kurse, Konzerte und Ausstellungen dem Streben breiter Volksmassen nach höherer Bildung nachzukommen. In der Folge entstehen Volksbibliotheken, „volkstümliche Universitätskurse“ und weitere Volkshoch­schulen in mehreren Wiener Bezirken.

Nach der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei am Hainfelder Parteitag zum Jahreswechsel 1888/89 werden die Arbeiterbildungsvereine bald von den gewerk­schaftlichen Zusammenschlüssen der einzelnen Berufsgruppen zurückgedrängt, die sich ebenfalls der „Vermittlung von Wissen, Aufklärung und Bildung“ verschreiben.

Auf einer Festversammlung im Andenken an die Gründung des Arbeiterbildungsvereins Gumpendorf erklärt Victor Adler 1902 in gewohnt launigen Worten:  Das, was die bürgerliche Gesellschaft als Bildung anerkennt, das ist vor allem die Fähigkeit, orthographisch zu schreiben, orthographisch zu reden, orthographisch zu essen, und orthographisch sich anzuziehen. Dann muß man noch ein gewisses Quantum von Dichtern, Komponisten und Philosophen dem Namen nach kennen und muß beiläufig wissen, wann man im Theater Bravo zu rufen hat. Das ist die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft.

Wir verlangen von euch keinerlei Art von Orthographie, wir verlangen von euch nichts als Selbsterkenntnis. [...] Die Bildung der Arbeiterklasse besteht darin, daß sie sich mit Bewußtsein eine große Aufgabe gestellt hat und von ihr erfüllt ist, daß sie in klarer Einsicht den Aufbau einer Gesellschaftsordnung betreibt, die den Proletariern eine ganz andere Bildungsmöglichkeit bringen wird, als es unser armer Bildungsverein mit seinen schwachen Mitteln vermocht hat.

Im einstigen Ballsaal auf der Mariahilfer Straße eröffnete Anfang 2011 ein Veranstaltungsort für Kabarett und Kleinkunst – der Stadtsaal.

Literatur
Festschrift anlässlich des 40jährigen Bestandes des Arbeiter-Bildungsvereines Wien, 1907; Karl Frischauf (2004): Die deutschen und österreichischen Arbeiterbildungsvereine und ihre Vorläuferorganisationen im 19. Jahrhundert; Martina Klenner (1991):, Der Stellenwert von Bildung in der Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung (1867 bis 1914); Dieter Langewiesche (1980): Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik; Friedrich Stadler (Hrsg.) (1982): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit.

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