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Aktuelle Seite: „Voll Leben und voll Tod ist diese Erde“
0142 | 16. FEBRUAR 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Voll Leben und voll Tod ist diese Erde.“

Am 16. Februar 1939 stirbt der Dichter Jura Soyfer im Konzentrationslager Buchenwald am Typhus, der in dem völlig überfüllten Lager grassiert. Zu diesem Zeitpunkt sind seine Eltern und Schwestern bereits in den USA, Juras Entlassungspapiere vorbereitet…

Jura Soyfer kommt am 8. Dezember 1912 als Sohn des jüdischen Industriellen Wladimir Soyfer und dessen Frau Ljubow in der ukrainischen Stadt Charkiw zur Welt. 1920 flieht die Familie vor der russischen Revolution über Istanbul nach Wien. Jura wird im Realgynasium Hagenmüllergasse in Erdberg eingeschult. 

Im Roten Wien findet das Emigrantenkind eine „provisorische Heimat“. 1927, nach dem Justizpalastbrand, tritt Jura dem Verband der Sozialistischen Mittelschüler bei und wird bald eines der aktivsten Mitglieder in der Gruppe der „Achtzehner“, einer weit links der Partei stehenden VSM-Gruppe in Währing. 

Der selbstbewusste und genialische junge Mann, der Russisch, Französisch und Deutsch beherrscht, eignet sich binnen weniger Jahre die Tradition der österreichischen Literatur an und entfaltet bald ein erstaunliches Gespür für den spielerischen Umgang mit Sprache.

Erste literarische Versuche

Erste lyrische Versuche des Zwölf- bis Vierzehnjährigen sind ebenso verschollen wie die meisten Arbeiten Soyfers für die Schülerzeitung Schulkampf aus den Jahren 1929 und 1930. Bei den politischen Kabarett­aufführungen in den sozialistischen Ferienkolonien zeigt sich Soyfers satirisches Talent. 1929 wird der 17-jährige Jura Mitglied des Politischen Kabarettsder Sozialistischen Veranstaltungsgruppe. Bei der gemeinsamen Arbeit mit Viktor Grünbaum und Robert Ehrenzweig, den wichtigsten Mitgliedern des Autoren­kollektivs, sammelt er erste Erfahrungen im szenischen Schreiben.

Nach der Matura inskribiert Jura Soyfer Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Kurz darauf erscheinen seine politischen Satiren erstmals in der Arbeiter-Zeitung und in der sozialdemokratischen Illustrierten Der Kuckuck. Soyfer verfasst auch zwei Artikel für die Politische Bühne. Darin plädiert er für eine Politisierung des Theaters und fordert den Verzicht auf Ablenkung und bloße Zerstreuung. Diese Haltung rückt Soyfers Werk in die Nähe des epischen Theaters von Bertolt Brecht.

Ob das, was wir schaffen, Kunst ist oder nicht, das ist uns gleichgültig. Wir dienen nicht der Kunst, sondern der Propaganda.Jura Soyfer

Zwischenrufe links

Die in derArbeiter-Zeitung publizierten Texte erscheinen regelmäßig in der satirischen Rubrik „Zwischenrufe links“. Es sind polemische Verse mit klaren Bezügen zur Tagesaktualität, politische „Gebrauchslyrik“ im Kampf gegen die konservative Bundesregierung und ihre Heimwehrbataillone.

Im Sommer 1932 unternimmt Jura Soyfer eine Reise nach Deutschland und lernt den Nationalsozialismus aus eigener Anschauung kennen. Soyfer ist „baff über die Geistlosigkeit und Brutalität dieses Massenbezauberers“ Hitler. „Die Zukunft Deutschlands ist nicht nur grau, sie ist feldgrau.“

So starb eine Partei

Nach den Februarkämpfen 1934 schließt sich Soyfer, enttäuscht über das Unvermögen der sozialdemokratischen Parteiführung, der illegalen Kommunistischen Partei an. Er verfasst Flugblätter und beginnt mit der Arbeit an seinem Roman „So starb eine Partei“. Der Text, der nur in Fragmenten erhalten ist, stellt eine Abrechnung mit der zögerlichen Politik der österreichischen Sozialdemokratie dar, die nach Meinung vieler junger Linker in die Niederlage geführt hat.

Ein Sumpf hatte sich gebildet. Und in diesem Sumpf versank die Partei langsam und hilflos.

Soyfer porträtiert Parteigänger und Gegner des Austro­marxismus, er schildert die Hilflosigkeit einer in Vereinsmeierei erstarrten Massenpartei, die oft trostlose Stimmung bei ihren Zusammenkünften, die Korrumpierbarkeit mancher Funktionäre durch Macht und Ämter. Und in der Figur des Zehetner kreiert er, als Inbegriff des opportunistischen Kleinbürgers, einen Vorläufer des Herrn Karl.

Das Romanmanuskript wird bei Soyfers Festnahme im Dezember 1937 konfisziert und gilt seither als verschollen. Bei den erhaltenen Teilen handelt es sich um Durchschläge, die Jura für den Fall einer Verhaftung angefertigt und einigen Freunden zur Aufbewahrung übergeben hatte.

Gehen ma halt a bisserl unter...

1935 macht der Schriftsteller Hans Weigel Jura mit Leo Askenasy, den späteren Hollywoodmimen Leon Askin, bekannt, der im ABCin der Porzellangasse 1 als Schauspieler und Regisseur tätig ist. Das ABC ist die politischste Kleinkunstbühne Wiens und Soyfer, der auch für die Literatur am Naschmarktarbeitet, wird ihr Hausautor – oftmals unter seinen Pseudonymen „Walter West" oder „Norbert Noll".

Jura entwickelt eine zwischen Theater und Kabarett angesiedelte Mischform, das sogenannte Mittelstück, eine etwa einstündige Szenenfolge, die von kabarettistischen Nummern und Chansons begleitet wird.

Soyfers erstes Stück „Der Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang“ zeigt die Menschheit kurz vor der Apokalypse. Die Erde ist aus dem Takt geraten und hat ihre Umlaufbahn verlassen, weil es auf ihr allzu sehr „menschelt". Die Planeten beschließen, den Kometen Konrad zu schicken, um die Erde von dieser „Plage“ zu befreien. Soyfer geißelt die unverbesserliche Dummheit der Menschen, die sogar den eigenen Untergang als Umsatz fördernde Sensation begrüßen. Ein Stück von großer Aktualität – aber mit Happy End. Bei seiner Erstaufführung 1936 lautet der Titel des Stücks noch „Zwischen Himmel und Erde.“

Vom Lechner Edi zur „Broadway-Melodie 1492“

Soyfers zweites Stück, „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“, zeigt den Arbeitslosen Edi, der sich mit seiner Freundin Fritzi und mit Hilfe einer Zeitmaschine aufmacht, um die Schuldigen für das Elend der Menschheit aufzuspüren und den „Fortschritt“ rückgängig zu machen. Ihre fantastische Reise führt sie von Galvani über Kolumbus zu Gutenberg, denen sie die Auswirkungen ihrer Entdeckungen und Erfindungen vorhalten: unbezahlte Stromrechnungen, amerikanische Touristen und ein „Revolverblattl.“

Schließlich landen die beiden im Paradies, wo gerade Adam und Eva erschaffen werden. Edi erkennt, dass der Ursprung allen Übels, die Menschheit selbst, nicht ungeschehen zu machen ist. Die Uraufführung des Stücks findet am 6. Oktober 1936 im Theater Literatur am Naschmarkt statt; als Autor firmiert „Walter West“.

Soyfers drittes Stück „Astoria“ entsteht 1937. Astoria, so heißt es, sei das Paradies auf Erden, ein Land, in dem es weder Unglück noch Arbeitslosigkeit oder Kriminalität gibt. Bald häufen sich Geschäftsanfragen und Einreiseanträge. Der Haken an der Sache: Astoria existiert gar nicht, es ist das Phantasiegespinst eines Vagabunden…

„Astoria“ ist nicht nur eine politische Satire auf den austrofaschistischen Ständestaat und den deutschen Nationalsozialismus, sondern auch eine höchst aktuelle Kritik an einer dem Geld und dem Schein verfallenen Gesellschaft.

Wanderlied
Der Sommer ist verglommen,
Der Herbst hat ausgeweint,
Nun ist der Winter kommen,
Der bitterböse Feind.
Die Erde liegt im Leichenhemd
Und war einst jung und bunt.
Was suchst du noch, du bist hier fremd,
Mein Bruder Vagabund.
Das Lied wird am 4. April 1937 in der Sonntagsbeilage des Wiener Tag abgedruckt.
 

1937 verfasst Soyfer auch das Stück „Vineta“. Die Bewohner von Vineta, einer versunkenen Stadt in der Ostsee, sind aus der Zeit gefallen. Sie kennen keine Vergangenheit, keine Geschichte, keine Zukunft und keine Hoffnung. Gefühle sind ihnen fremd, Gewissen haben sie keines, ihre Existenzform ist die Lethargie. Da erscheint Jonny, der auf einem Tauchgang verunglückte Seemann. Er spricht letztendlich die Wahrheit aus: „Vineta, eure Welt ist – tot!"

Vineta gilt als Höhepunkt im dramatischen Schaffen von Jura Soyfer, der hier die Traditionen des Volksstücks und des Kabaretts abstreift, die Tagesaktualität hinter sich lässt und das Allgemeinmenschliche anspricht. Gleichzeitig ist „Vineta“ auch eine Metapher auf die Rückwärtsgewandtheit Wiens im austrofaschistischen Ständestaat.

Ebenfalls 1937 schreibt Soyfer für das Theater ABC die „Broadway-Melodie 1492“, eine freie Variation des Stückes „Kolumbus“ von Kurt Tucholsky und Walter Hasenclever. Soyfer erzählt die Geschichte der „Entdeckung“ Amerikas als die Geschichte einer Eroberung, in deren Folge die zu „zivilisierenden Eingeborenen“ mit allen Übeln des Kapitalismus angesteckt werden: „Die Faust – die Phrase – und das Geld: Wir drei erobern die Welt.“

„Bleib ein Mensch, Kamerad…“

1937 wird Soyfer durch eine Verwechslung mit Franz Marek, einem führenden Funktionär der Kommunistischen Partei, erstmals festgenommen. Nachdem auch bei ihm belastendes Material gefunden wird, landet er für drei Monate im Gefängnis und kommt schließlich im Februar 1938 im Zuge einer allgemeinen politischen Amnestie frei.

In einem Brief an das befreundete Ehepaar Rapoport schreibt Jura: „Denn nun ist wirklich eingetreten, was Ihr und alle Wohlmeinenden mir […] immer prophezeit haben: der Roman ist futsch.“

Drei Wochen lang befindet sich Jura Soyfer in Freiheit. Am 13. März 1938 – einen Tag nach dem „Anschluss“ – wird er beim Versuch, auf Schiern die Grenze zur Schweiz zu überqueren, festgenommen, in das Polizeigefängnis Innsbruck und von dort am 23. Juni in das Konzentrationslager Dachau gebracht.

Hier entsteht das „Dachaulied", das einzige aus dem KZ überlieferte lyrische Zeugnis Jura Soyfers. Herbert Zipper, der es vertont hat, berichtet 1975: „Das Dachau-Lied entstand im August 1938 an einem heißen, schweren Arbeitstag, den Jura und ich, in einer Kiesgrube arbeitend, gemeinsam verbrachten.“

Im Herbst 1938 wird Jura Soyfer ins Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Dort fordert die Lagerführung die zum Teil aus „besseren Verhältnissen“ stammenden „Dachauer“ auf, über deren Angehörige eine baldige Entlassung und Auswanderung zu erwirken. Als im Lager eine Typhusepidemie ausbricht, meldet sich Jura freiwillig als Leichenträger...

In Jura Soyfers letztem Brief an seine Freundin Helli Andis schreibt er noch:

Liebste Helli, ich denke sehr viel an Dich. Ich frage mich, in welchen Beruf, in welche Gegend, zu welchem Mann der Sturm Dich in diesen letzten Monaten geblasen haben mag. Ich trage von Dir ein, inzwischen wohl ziemlich unähnlich gewordenes Bild im Herzen und küsse es hie und da nachdenklich. Jura

Literatur
Horst Jarka (Hrsg.), Werkausgabe, Wien 2002; Herbert Arlt (Hrsg.), Jura Soyfer, Wien 2012.

GEHN MA HALT A BISSERL UNTER… 100 JAHRE JURA SOYFER

Sonderausstellung 2012

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