Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Vom „Zukunfts-“ zum Horrorschloss
0088 | 12. NOVEMBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Vom „Zukunfts-“ zum Horrorschloss

Am 12. November 1927 wird das neue städtische Kinderheim Schloss Wilheminenberg feierlich eröffnet. Die in kommunaler Obhut befindlichen Kinder, die bis dahin in Baracken am Tivoli aus der Zeit des Ersten Weltkriegs untergebracht waren, übersiedeln nun hierher.

Der Weg von der Baracke zum Palast sei, so Julius Tandler in seiner Eröffnungsrede, ein Symbol der Fürsorge der Gemeinde Wien. Tatsächlich ist der Ort an Symbolik kaum zu übertreffen, das weiß auch der Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen: Dieser Palast, für einzelne Auserwählte erbaut, wurde von der Gemeinde Wien erworben und den vielen hilfsbedürftigen Kindern dieser Stadt gewidmet.

Eine wechselvolle Geschichte

Das am westlichen Stadtrand von Wien am Gallitzinberg, auch Wilhelminenberg genannt, gelegene Schloss blickt auf eine wechselvolle, knapp 150-jährige Geschichte zurück. Bereits 1781 errichtet Feldmarschall Franz Moritz Graf von Lascy, einer der „Helden“ des Siebenjährigen Krieges und Besitzer der Herrschaft Neuwaldegg, hier ein kleines Lustschloss, das bereits 1784 in den Besitz seines Freundes, des russischen Botschafters Demetrius Michailowitsch Fürst von Gallitzin, übergeht.

1824 erwirbt Julius von Montléart die Liegenschaft mit dem bereits renovierungsbedürftigen Schlösschen. Nach dem Tod des Fürsten gelangt es an dessen Sohn Moritz, der es schließlich 1866 seiner Gattin Wilhelmine schenkt. Wilhelmine Fürstin von Montléart-Sachsen-Curland macht sich als „Wohltäterin“ verdient, nach ihr sind heute nicht nur das Schloss, sondern auch das nahegelegene Spital benannt, eine ihrer größten karitativen Stiftungen.

Nach Wilhelmines Tod im Jahr 1895 erbt Erzherzog Rainer den Besitz. Er lässt das baufällige Gebäude abreißen und an seiner Stelle in den Jahren 1903 bis 1908 ein Palais im Neo-Empirestil errichten. 1913 geht der Besitz an seinen Neffen Erzherzog Leopold Salvator über.

1918 wird das Schloss zum Lazarett und Genesungsheim für Kriegsopfer umfunktioniert, 1922 kauft es der Züricher Bankdirektor Wilhelm Ammann. Im November 1926 schließlich erwirbt die Stadt Wien das Schloss in einer Zwangs­versteigerung und lässt es zum Kinderheim umbauen.

Die herrlichste Kinderherberge der ganzen Welt

Das Heim am Wilheminenberg bietet 200 Kindern Platz und ist wohl das vornehmste Kinderheim der damaligen Zeit. Hier soll den ärmsten Kindern der Stadt, die in der Kinderübernahmsstelle aufgenommen wurden, der Start in eine bessere Zukunft ermöglicht werden.

Tatsächlich ist das Kinderheim am Wilhelminenberg eine Erziehungsanstalt nach modernsten Maßstäben, in der Zucht und Drill keinen Platz mehr haben. „Aufseher“ werden durch pädagogisch geschulte ErzieherInnen und PflegerInnen ersetzt, die Uniform der Zöglinge wird abgeschafft.

Zur Ausstattung des Heims gehören eine Zahnklinik, ein Vortrags- bzw. Kinosaal, eine Badeanlage, ein Turnsaal, ein Schulwerkstätte, eine ärztliche Ambulanz und eine Krankenabteilung. Tandler nennt es sein „Zukunftsschloß“.

Das Kinderheim Wilhelminenberg wird sowohl durch seine herrliche Lage inmitten des Wald- und Wiesengürtels als auch infolge seiner zweckmäßigen und modernen Ausstattung und Einrichtung seinen Schützlingen einen gesunden, der Großstadt entrückten Aufenthalt bieten.Das Neue Wien, 1927

Schloss Wilheminenberg ist ein „Durchzugsheim“. Aufgabe der neuen Einrichtung ist es, die in der Kinderübernahmsstelle „aufgenommenen und quarantainisierten Kinder“ für die Dauer von drei bis vier Monaten weiter zu beobachten, zu untersuchen und zu testen. Von der Diagnose der Heilpädagogen hängt es ab, wo das Kind nach dieser Beobachtungsphase untergebracht wird.

„Normale Kinder“ und „leichtere Fälle von Schwererziehbaren“ werden zumeist in Pflege gegeben, „ausgesprochen schwererziehbare“ Kinder kommen in Spezialanstalten. 1928 sind das bei den Burschen immerhin 30 Prozent. Knaben, so heißt es,  erscheinen oft anstaltsbedürftig, obwohl sie es an sich nicht sind, nur deswegen, weil sie nicht gern in Pflege genommen werden, während Mädchen, die sich leichter in eine Familie einfügen, anspruchsloser sind und sich im Hause verwendbarer zeigen als Knaben.

Julius Tandler bemüht sich darum, in allen städtischen Erziehungs­heimen, unter anderem auch in der berüchtigten „Besserungsanstalt“ in Eggenburg, moderne Erziehungs­methoden einzuführen und verbietet die Prügelstrafe.
„Positive Erziehungsmittel“ wie Gruppenbildung, Arbeitstherapien, Lehrausbildung, aber auch Sport und Musik stehen im Zentrum der pädagogischen Maßnahmen. Ziel sei es, den Kindern in individueller Erziehung eine gewisse Freiheit und Entwicklungsmöglichkeit zu geben und sie zu Kulturmenschen zu erziehen.

Von der modernen zur schwarzen Pädagogik

1934 werden die gesellschafts­politischen Reformen des Roten Wien rückgängig gemacht – auch im Kinderheim Wilhelminenberg. Im austrofaschistischen Ständestaat ist das Schloss für wenige Jahre Sitz der Wiener Sängerknaben. Im März 1938 übergeben es die neuen Machthaber der „Österreichischen Legion“, einer seit 1933 bestehenden paramilitärischen Einheit, die sich aus ins Deutsche Reich „geflüchteten“ österreichischen National­sozialisten rekrutiert. In den Kriegsjahren dient das Schloss als Erholungsheim für SA-Führer, später als Heereslazarett.

Nach Kriegsende erfolgt die neuerliche Umwidmung in ein Heim für erholungsbedürftige Kinder und ehemalige KZ-Häftlinge; auch die Biologische Station Wilhelminenberg von Otto Koenig lässt sich auf dem Gelände nieder.

Die dunkelste Epoche des Schlosses am Wilheminenberg beginnt 1961, als die Stadt hier ein Heim für „Sonderschülerinnen“ unterbringt. Erst 60 Jahre später wird einer größeren Öffentlichkeit bekannt, dass es in dieser Zeit im Heim regelmäßig zu schwersten Übergriffen und sexuellen Missbräuchen gekommen war.

Wir wurden alle vergewaltigt und verkauft.

Die Stadtverwaltung richtet eine Kommission ein, deren 345 Seiten umfassender Endbericht ein erschütterndes Bild über die Zustände in den Jugendheimen nach 1945 liefert. Bereits die ersten im Jahr 1948 noch zur Erholung im Schloss Wilhelminenberg untergebrachten Kinder beklagen massive Gewaltanwendung, sie berichten von Schlägen am ganzen Körper und auf den Kopf, stundenlangem Stehen zur Strafe, aber auch, dass sie gezwungen worden seien, Erbrochenes zu essen. Diese Methoden bleiben über den gesamten Zeitraum hin gleich.

Besonders schwer wiegen die Fälle von sexuellem Missbrauch durch hausintern Beschäftigte, aber auch durch heimfremde Personen, die in hunderten von Fällen bis zur Schließung des Heims im Jahr 1977 dokumentiert sind.

Spätestens Anfang der Siebziger-Jahre muss den politisch Verantwortlichen in der Stadtregierung aber klar gewesen sein, dass die Zustände in den Wiener Kinderheimen untragbar waren, heißt es in dem Bericht weiter. Reagiert wurde jahrelang nicht. Bis zur Schließung des Heims wurden psychische Gewalt und eben physische Gewalt geübt.

Die Vorsitzende der Kommission, die Richterin Barbara Helige, erklärt 2013 in einem Interview mit der Wochenzeitung Falter: Die MA 11 wusste alles, bis 1973 war Maria Jacobi als verantwortliche Stadträtin und danach war Gertrude Fröhlich-Sandner zuständig. Wir haben Briefe an Jacobi gefunden. Sie war voll informiert – allerdings nicht über die sexuellen Übergriffe.

Die Opfer-Hilfsorganisation Weißer Ring bezeichnet das Kinderheim Wilhelminenberg in ihrem Abschluss­bericht über die Opfer in den Kinderheimen der Stadt Wien als „Hotspot des Missbrauchs“. In der Folge werden 2.384 ehemalige Heimkinder, die sich gemeldet hatten, von der Gemeinde Wien mit insgesamt 52 Millionen Euro entschädigt.

Nach der Schließung des Heims am Wilhelminenberg steht das Gebäude jahrelang leer; 1986 gibt Vize­bürgermeister Hans Mayr die Sanierung und den Umbau des Schlosses zu einem Gästehaus bekannt. Das mit großem finanziellen Aufwand stilgerecht adaptierte „Gästehaus Schloss Wilhelminenberg“ wird nach 14 Monaten Bauzeit 1988 eröffnet. Im Jahr 2000 wird das Gästehaus in das „Hotel Schloss Wilhelminenberg“ umgewandelt, in den Jahren 2002/03 komplett renoviert und seitdem als Viersternhotel geführt.

Literatur
Barbara Helige, Michael John, Helge Schmucker, Gabriele Wörgötter: Endbericht der Kommission Wilhelminenberg. Wien 2013 (PDF).

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

Fuss ...