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Aktuelle Seite: „Wir bewundern die Schöpfungen des neuen Wien…“
0020 | 28. MAI 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Wir bewundern die Schöpfungen des neuen Wien…“

Eine englische Studienkommission für Städtebau zu Besuch in Wien

Bereits in der Ersten Republik besuchen zahlreiche ausländische Delegationen das Rote Wien – um zu sehen, zu kritisieren und zu lernen. Vor allem der kommunale Wohnbau ist damals wie heute Ziel des Interesses.

Am 28. Mai 1931 berichtet die Arbeiter-Zeitung unter dem Titel Wir bewundern die Schöpfungen des neuen Wien... von einer Studienreise der Londoner Garden Cities und Town Planning Association, die sich mit den Problemen des Städtebaues und der Errichtung von Gartenstädten beschäftigt.

Die Delegation, der Gemeinderäte aus London und anderen englischen Städten angehören, besichtigt mehrere große Wohnhausanlagen, darunter auch Sandleiten, die Gartenstädte Spinnerin am Kreuz – den heutigen George-Washington-Hof –, Am Wienerberg und Am Tivoli, den Karl-Marx-Hof, das Amalien- und das Kongressbad, den neuen Tuberkulosepavillon in Lainz, das eben erst fertig gestellte Praterstadion sowie eine Reihe von städtischen Sportplätzen und Kinderfreibädern.

Höflichkeiten werden ausgetauscht…

Die Gemeindeverwaltung will ihre Wohnbautätigkeit solange fortsetzen, bis jeder Bürger das Obdach besitzt, auf das er Anrecht hat. Anton Weber

In Vertretung des Bürgermeisters begrüßt der für das Wohnungs­wesen zuständige Stadtrat Anton Weber die Gäste: Wir freuen uns, feststellen zu können, daß die Richtlinien unserer Wohnbaupolitik volle Anerkennung finden. An Stelle des einzelnen Bauherrn, für den beim Wohnungsbau die kaufmännische Rentabilität ausschlaggebend ist, haben wir die Gesamtheit der Bevölkerung gesetzt.

Der Leiter der ausländischen Delegation, der Labour-Politiker und Stadtplaner Richard L. Reiss bringt die Bewunderung der Delegation für die Wiener städtischen Wohnhausanlagen, die Kindergärten, die Schöpfungen des neuen Wien überhaupt zum Ausdruck und betont, daß Wien der Welt gezeigt [habe], wie man das Wohnungsproblem, insbesondere was die finanzielle Seite betrifft, lösen soll.

 

The housing conditions

Wenige Wochen später erscheint im Garden Cities & Town Planning (XXI, 7, Juli/August 1931) ein von Reiss verfasster Artikel, der ebenfalls voll des Lobes für das Neue Wien ist. Personally, schreibt Reiss, I found Vienna one of the most interesting and exciting Continental towns which I have visited.

Vor allem wenn man bedenke, dass die Wohnverhältnisse in Wien vor dem Krieg schlimmer gewesen seien als in jeder anderen vergleichbaren europäischen Stadt. The housing conditions of East London, bad as they were, were relatively a paradise to those of the working-classes in Vienna.

Positiv wird auch vermerkt, dass die besuchten Wohnhausanlagen über eine ganze Reihe von sozialen Infrastruktureinrichtungen verfügten – modern ausgestattete Bäder und Waschküchen, Kindergärten und Spielplätze, Gesundheitszentren für werdende Mütter und Säuglinge, Schulzahnkliniken und Krankenkassenambulatorien, Büchereien und Apotheken, Postfilialen und Geschäftslokale für den täglichen Bedarf.

Labsal für die Wiener Seele

So viel Anerkennung tut den Wienern gut. Fünf Jahre zuvor, im September 1926, war die Stadt Gastgeberin des prestigeträchtigen Internationalen Städtebau­kongresses gewesen. Auch damals präsentierte man stolz und selbstbewusst die im Rahmen des ersten Wohnbauprogrammes errichteten Wohnhausanlagen – und war ganz unerwartet mit heftiger Kritik an der Wiener Wohnbaupolitik konfrontiert worden.

In der Schweizerischen Zeitschrift für Wohnungswesen (2, 1927) berichtet der Architekt Heinrich Peter: Den Höhepunkt des Kongresses bildete die glänzend organsierte Besichtigung der von der Stadt Wien erstellten Wohnbauten. Dabei eskalierte allerdings die bereits seit längerem geführte Diskussion rund um das Thema „Superblock versus Gartenstadt“. Die meisten der insgesamt 1.100 Kongress­teilnehmer, darunter so renommierte Architekten und Städteplaner wie der Mitbegründer der Gartenstadtbewegung Hans Kampffmeyer, der Stadtplaner Siegfried Sitte, der Basler Chefarchitekt Hans Bernoulli und der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, sprachen sich für den Flachbau in Form von Siedlungen aus und kritisierten die neu errichteten „Mietskasernen“ der Gemeinde Wien harsch.

Ein vernichtendes Urteil

Diese Wiener Gemeindewohnungen sind, schreibt Peter, mit Ausnahme von 3500 Einfamilienhäusern in zum Teil ausgedehnten Siedlungen, alle in typischen „Mietskasernen“ von gewaltiger Ausdehnung mit 4, 5 und 6 Geschossen, an einzelnen architektonisch gesteigerten Punkten auch mit 8 Geschossen, untergebracht. Dabei weisen diese Wohnungen aber eine, für unsere Auffassung unglaublich kleine Grundfläche auf: sie bestehen zu ¾ aus Wohnküche, 1 Zimmer, Abort und Vorraum von zusammen 38 m2, zu ¼ aus 2 Zimmern von zusammen 48 m2 […]. Es ist daher klar, dass  sich aus dieser Bau- und Wohnform eine für uns ungewohnte Wohndichtigkeit erzieht, die vom Kongress mehrheitlich bestimmt abgelehnt wurde.

Das Massenmietshaus müsse überwunden werden, so der fast einhellige Tenor, die kulturell und sozial beste Wohnform der breiten Massen der Bevölkerung [sei] der Flachbau, das Einfamilienhaus mit Garten, die Siedlung! (Der Aufbau, 1926).

Alles in allem fielen die Reaktionen unerwartet enttäuschend aus. Das war der Gewinn der Städtebautagung für Wien, schreibt Hippenmeier in der Zeitschrift Das Werk : Architektur und Kunst (13, 1926), dass, selbst in Würdigung aller Verhältnisse, die Wohnungstürmung in diesem Uebermass bestimmt abgelehnt wurde.Die Wiener hielten dagegen; für die Errichtung von Trabantenstädten in Flachbau [...] wäre das Terrain nicht oder nur allzu entfernt vorhanden und die Kosten der Aufschließung exorbitant hoch gewesen.Die Wohnungsnot, so der damalige Stadtbaudirektor Franz Musil, habe zudem ein rasches Handeln erfordert.

Wien lernt dazu…

Als Ergebnis der Diskussionen kommt es schließlich zu einer Reduktion der Verbauungsdichte auf nur noch 30 Prozent; darüber hinaus werden im Rahmen des zweiten Wohnbauprogramms einige große Siedlungsprojekte, wie die Wohnsiedlung Lockerwiese oder eben die Siedlung Am Tivoli errichtet. Auch der große George-Washington-Hof  war die bauliche Antwort auf die Kongreßkritik – ein hybrides Mittelding zwischen einer Gartenstadt und einem kleinteilig gestalteten Stockwerkhaus (Weihsmann 2002).

In der Wiener Sozialdemokratie ist diese Kurskorrektur durchaus umstritten. Während Architekten wie Josef Frank, der am heftigsten gegen den Superblockbau wettert obwohl er selbst einige Großwohnanlagen wie den Winarskyhof oder den späteren Leopoldine-Glöckel-Hof (mit)plant –, oder Franz Schacherl und Franz Schuster eine Stärkung der Siedlerbewegung durch den Kongress erblicken, sprechen sich andere entschieden gegen den Kleinhausbau aus. Solche „agrar-romantischen Vorstellungen“ würden die sozialdemokratische Bewegung ideologisch korrumpieren, Kleinhaussiedlungen zu einer Demobilisierung der Arbeiterschaft führen, da man als Hausbesitzer unweigerlich zum „Spießbürger“ werde.

… und behält am Ende recht.

Fünf Jahre und eine Wirtschaftskrise später ist all das bereits Geschichte. Angesichts der Massenarbeits­losigkeit rückt die Kritik an der Wohnbaupolitik des Roten Wien in den Hintergrund und der kommunale Wiener Wohnbau erhält jenen internationalen Stellenwert und Vorbildcharakter, den er bis heute besitzt.

Mister Pim´s trip to Europe

Sehr deutlich schlägt sich das im abendfüllenden Werbefilm „Das Notizbuch des Mr. Pim“ aus dem Jahre 1930 nieder. Der in die USA ausgewanderte Zeitungs­herausgeber und eingefleischte Kapitalist Elias Pim reist nach Wien, um sich selbst ein Bild von der „dem Untergang geweihten Stadt“ zu machen. Pim, der sich zunächst in seinen Vorurteilen bestätigt sieht, wird von seiner Tochter und seinem Schwiegersohn in spe Schritt für Schritt mit den Errungenschaften des Roten Wien konfrontiert und durch die drastische Gegenüber­stellung von früherem sozialen Elend und neuer Wohnungs- und Fürsorgeherrlichkeit davon überzeugt, dass Wiens Stadtver­waltung „die beste der Welt ist.“

Literatur
Dagmar Keller, Superblock versus Gartenstadt. Studien zur Diskussion über den Wiener Wohnbau der 1920er Jahre, 2011.
Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919 –1934, 2002.
Der Internationale Wohnungs- und Städtebaukongress 1926 in Wien, Schweizerische Zeitschrift für Wohnungswesen 2 (1927).
TCPA Journal 1931 No. 7 July /August

STADTSPAZIERGANG GEORGE-WASHINGTON-HOF

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