Am 7. März 1939, ein knappes Jahr nachdem die Nationalsozialisten die Herrschaft in Österreich übernommen hatten, stirbt die Pionierin der sozialdemokratischen Frauenbewegung Adelheid Popp.
Die am 11. Februar 1869 in Inzersdorf bei Wien als jüngstes Kind einer Arbeiterin und eines Webers geborene Adelheid Dworak stammt aus schwierigsten Verhältnissen. Der alkoholkranke Vater stirbt, als Adelheid erst sechs Jahre alt ist. Von den fünfzehn Kindern, die ihre Mutter zur Welt bringt, überleben nur fünf das Kindesalter.
Obwohl ihr Lehrer der Mutter dringend zurät, die begabte Adelheid zur Schule zu schicken, meldet sie die Mutter trotz Schulpflicht nicht mehr an. Die Familie benötigt jede Arbeitskraft, um irgendwie über die Runden zu kommen. Bildung, so die Mutter, selbst Analphabetin, sei für eine Arbeiterin unnötig.
Schließlich wurde mir das Knöpfeaufnähen gelehrt, und ich nähte nun Perlmutterknöpfe auf Silber- und Goldpapier. […] Ich war nun zehn Jahre und fünf Monate alt und sollte nicht mehr in die Schule, sondern in eine Arbeit gehen.
So muss Adelheid nach nur drei Jahren Volksschule bereits als Kind zum Familienunterhalt beitragen – zunächst als Dienstmädchen und Heimarbeiterin, wo sie Tücher häkelt oder aus Perlen und Seidenschnüren Aufputz für Damenkonfektion fertigt. Mit 14 Jahren wird sie Arbeiterin in einer Fabrik für Bronzeerzeugnisse, später in einer Patronen- und Korkfabrik.
Das Leid der „unteren Classen“ erlebt sie buchstäblich am eigenen Leib. Ihre Kindheit und Jugend sind von Elend, Hunger, Ausbeutung, Demütigung und Verzweiflung gekennzeichnet. „Kein Lichtstrahl, [...] nichts vom behaglichen Heim, wo mütterliche Liebe und Sorgfalt meine Kindheit geleitet hätte, ist mir bewusst“, notiert sie 1909 in ihrer Autobiographie „Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin“, die in zehn Sprachen übersetzt werden wird.
Mit 13 Jahren erkrankt sie schwer – die Beschäftigung in der Bronzefabrik ist laut der Ärzte „Gift für mich“. Im Krankenhaus kommt Adelheid „erstmals zur Ruhe“. Hier ist es warm, es gibt ausreichend zu essen, sie hat ein Bett für sich alleine und saubere Bettwäsche – der Himmel auf Erden.
Wesentlich für ihre weitere Entwicklung wird ein Freund ihres Bruders, der ihr den Unterschied zwischen Anarchismus und Sozialismus erklärt und sie mit der Gleichheit Victor Adlers bekannt macht. Schließlich darf sie zu Arbeiterversammlungen mitkommen, und einmal meldet sich die erst 17Jährige spontan zu Wort, um über die Situation der Arbeiterinnen zu sprechen. Als ich die Stufen zum Rednerpult hinaufging, flimmerte es mir vor den Augen und ich spürte es würgend im Halse. Aber ich überwand diesen Zustand und hielt meine erste Rede. Ich sprach von den Leiden, von der Ausbeutung und von der geistigen Vernachlässigung der Arbeiterinnen. [...] Aufklärung, Bildung und Wissen forderte ich für mein Geschlecht.
Ihre flammende Rede erregt großes Aufsehen und macht führende Funktionäre auf sie aufmerksam. Adelheid holt abends die Schulbildung nach, verschlingt sozialistische Schriften und verfasst erste Artikel. Emma Adler, die Frau des Parteivorsitzenden, nimmt sich ihrer an und erteilt ihr Sprech- und Rechtschreibunterricht. An den Wochenenden und an manchem Abend tritt sie im Rahmen von Parteiversammlungen auf, zu denen sie oft stundenlang zu Fuß gehen muss.
Das Geld für die Straßenbahn konnten sich nur wenige leisten. Selbst hungrig, ermüdet von der elf- oder noch mehrstündigen Tagesarbeit, ging man dann in die Versammlungen, um zu sprechen. Es erschien allen selbstverständlich, einer großen Sache mit Hingebung und Opferbereitschaft zu dienen. Der Weg zur Höhe, 1929
1891 tritt Adelheid Popp in den Wiener Arbeiterinnen-Bildungsverein ein, in dessen Vorstand sie bald gewählt werden wird. Im selben Jahr fordern die sozialdemokratischen Frauen die Herausgabe einer eigenen Zeitung. Die Parteileitung ist anfangs dagegen, stimmt dem Projekt aber letztlich zu. Entscheidend ist Victor Adlers Meinungsumschwung.
Im Oktober 1892 verlässt Adelheid die Korkfabrik und arbeitet fortan als Redakteurin für die von ihr mitbegründete Arbeiterinnen-Zeitung. Sie wird zu einer „öffentlichen Frau“, von der Polizei bespitzelt und der Obrigkeit observiert. Mehrmals steht sie nach Veranstaltungen vor einem Richter. Da sie sich geschickt zu verteidigen weiß, wird sie meist freigesprochen. Wegen ihres überschäumenden Temperaments rät ihr Victor Adler: Liebe Genossin, wenn Sie wieder einmal gesiegt haben, so lassen Sie das die Besiegten nicht merken.
Sie war glaubwürdig, weil sie eine von ihnen war und aus eigener Erfahrung wusste, was es bedeutet, als Arbeiterin und Frau ausgebeutet und unterdrückt zu werden.Gernot Trausmuth
1893 ist Adelheid Mitbegründerin und bald auch Vorsitzende des Lese- und Diskutierclubs Libertas. Im selben Jahr beteiligt sie sich an der Organisation des ersten Frauenstreiks in Österreich, bei dem 700 Arbeiterinnen mit Erfolg eine Verkürzung der Arbeitszeit und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen fordern.
In der Redaktion der Arbeiter-Zeitung – damals noch in der Amerlingstraße – lernt sie schließlich auch den um 20 Jahre älteren Julius Popp kennen. Der gelernte Schuhmacher stammt wie sie selbst aus ärmlichen Verhältnissen, hat sich zum Mitherausgeber und Administrator der Arbeiter-Zeitung gemausert und ist Herr über die Parteikassen. Julius Popp gilt als „Urgestein der Wiener Sozialdemokratie“ und ist ein enger Freund Victor Adlers, der ihn einmal als „das personifizierte Gewissen der Partei“ bezeichnet. 1893 heiraten Julius und Adelheid.
In einem kleinen Nebenzimmer wohnte der Parteikassier und Administrator der „Arbeiter-Zeitung“, Julius Popp. Er machte den Eindruck großer Kränklichkeit, ich hatte Mitleid mit ihm.Der Weg zur Höhe, 1929
Popp unterstützt die politischen Ambitionen seiner Frau, auch wenn er, wie Adelheid später erzählt, „in Fragen der Haushaltsführung“ durchaus traditionell denkt. Der Doppelverdienst des Ehepaars erzeugt parteiinterne Kritik –Neider sprechen von „Vetternwirtschaft“ und „Bonzentum“ – weshalb Adelheid auf ihr Gehalt verzichtet und fortan unentgeltlich als Redakteurin und Sekretärin der Frauenorganisation arbeitet.
Als Julius Popp 1902 stirbt, hinterlässt er eine Frau mit zwei Kleinkindern. Adelheid wird auch ihre beiden Söhne auf tragische Weise verlieren. Der ältere fällt im Ersten Weltkrieg, der zweite stirbt 1924 während einer Grippeepidemie.
1895 steht Adelheid Popp als verantwortliche Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung wieder einmal vor Gericht. Der Vorwurf lautet auf „Herabwürdigung der Ehe und Familie“. In ihrer Verteidigung kritisiert sie die geltenden Ehegesetze, die Unfreiheit der Frauen in der Ehe und die bürgerliche Doppelmoral. Sie wird zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt, verschärft durch zwei Fasttage.
Doch Adelheid gibt nicht auf. 1898 wird sie Mitglied des sozialdemokratischen Frauenreichskomitees, 1902 initiiert sie gemeinsam mit Therese Schlesinger gegen den erheblichen Widerstand der eigenen Parteispitze den „Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen“. 1909 erscheint, zunächst anonym, aber mit einem Vorwort August Bebels, „Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ – die erste einer Reihe von Publikationen Adelheid Popps. Als Nachfolgerin von Clara Zetkin wird sie 1916 außerdem Vorsitzende des Internationalen Sozialdemokratischen Frauenkomitees.
Bei den Friedenskundgebungen Anfang 1917 ist Adelheid Popp neben Therese Schlesinger die einzige weibliche Rednerin; als einzige Frau spricht sie auch am 11. November 1917 im Konzerthaussaal anlässlich der Feier zum Sieg der Russischen Revolution.
Mit der Gründung der Republik ist Adelheid Popps Karriere auf Schiene. 1918 wird sie in den Parteivorstand gewählt, im selben Jahr auch in den Wiener Gemeinderat. 1919 folgt die Wahl zur Abgeordneten zum Nationalrat, dem sie bis 1934 angehört. In dieser Funktion ist sie die allererste Frau, die eine Rede im Hohen Haus hält.
Im Parlament setzt sich Adelheid Popp vehement für soziale Anliegen und vor allem für die Rechte der Frauen ein, tritt gegen das geltende Ehegesetz auf, fordert die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs, kritisiert die Zustände in den Gefängnissen und den Einfluss der Kirche im Bildungswesen. Immer nennt sie die Dinge beim Namen. Fast alle ihre Anliegen werden erst in der Zweiten Republik, teilweise sogar erst in der Ära Kreisky realisiert werden.
Bereits in der ersten Gesetzgebungsperiode bringt Adelheid Popp einen Antrag ein, in dem sie sich für die Straffreiheit bei einem Schwangerschaftsabbruch bis zum dritten Monat stark macht. Sie will das Leid jener vielen Frauen lindern, die sich angesichts der sozialen Verhältnisse und der allgemein katastrophalen Ernährungssituation nicht in der Lage sehen, weitere Kinder zu ernähren. Deshalb, so gibt sie zu bedenken, wirkten auch die harten Strafen nicht abschreckend.
Jeder Dieb, Räuber und Betrüger könne durch einen Gnadenakt rehabilitiert werden, nur Frauen, die gegen ein unmenschliches Gesetz verstoßen, würden ihr Leben lang gebrandmarkt. Dieser und ähnliche Anträge haben allerdings keine Chance, angenommen zu werden. Sie werden dem Justizausschuss zugewiesen, eine politische Bestattung…
Bisher haben nur die Männer über unsere Seele geurteilt, aber die Frauen, die heute politisch reif geworden sind und mit Gesetze machen, sollen endlich auch einmal ihr eigenes Seelenleben zur Geltung bringen und es dazu bringen, dass die Männer lernen, nicht nur von ihrem Standpunkt aus zu urteilen, sondern in der Frau ein Wesen zu erkennen, das reif ist und befähigt sein muss, über sich selbst zu urteilen und zu bestimmen. (26. Sitzung NR, I. GP, 12. März 1921)
Revolutionen haben die Welt erschüttert, an dem bejammernswerten Los der Frauen haben sie nichts geändert. Erst der Sozialismus rüttelte auch an den Ketten der Frauen.Adelheid Popp am Frauentag, 1929
Einen Durchbruch kann sie mit ihrer Initiative für ein Hausgehilfengesetz erreichen. Hausgehilfinnen sind bis dahin praktisch rechtlos und der Willkür ihrer Dienstgeber ausgeliefert. Adelheid Popp legt der Konstituierenden Nationalversammlung daher einen Gesetzesantrag über den Dienstvertrag der Hausgehilfen vor, der vieles an Verbesserungen bringen wird, v.a. aber die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf 13 Stunden und eine 14-tägige Kündigungsfrist. Damit solle „das Verhältnis zwischen dem Haushaltungsvorstand und seinen Angestellten von den letzten Merkmalen der Untertänigkeit“ befreit und in ein reines Vertragsverhältnis umgestaltet werden. Der Antrag passiert den Sozialausschuss mit einigen Änderungen und wird schließlich am 26. Februar 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen.
Ein besonderes Anliegen sind Adelheid Popp auch die jugendlichen Straftäter, die ihrer Ansicht nach nicht wie Verbrecher behandelt werden sollten. Wie könne man diesen Jugendlichen helfen, die vor allem durch die Arbeitslosigkeit dazu verleitet worden wären, „gegen den sogenannten arbeitsamen und rechtschaffenen Lebenswandel“ zu verstoßen?
Adelheid setzt sich auch für die Bekämpfung der Kinderarbeit ein. So kritisiert sie noch im Januar 1929 die Tatsache, dass Österreich die Konvention über die Kinderrechte noch nicht ratifiziert habe. Immer noch würden Kinder unter 14 Jahren trotz gesetzlicher Verbote in Gewerbebetrieben arbeiten müssen, was ein „schweres Verbrechen“ darstelle.
Anlässlich des 60. Geburtstags der „geliebten und verehrten Führerin“ schreibt der Journalist Max Winter in der Frauenzeitschrift Die Unzufriedene nicht ohne Pathos: Adelheid Popp hatte das große Glück, am Anfang der Arbeiterbewegung stehen zu können. Sie konnte mit ihrer Arbeit einsetzen, als noch alles zu tun war, sie trat als erster weiblicher Apostel des Sozialismus in die Reihen.
Und wieder einmal füllte sich die wohlbekannte Halle im Krematorium. „Man stellt sich an“, sagte eine bittere Stimme. „Das sind jetzt unsere Feste“, sagte eine andere.
Tagebucheintrag von Aline Furtmüller (zit.n. Steiner)
Am 16. Februar 1933 – knappe drei Wochen vor der Ausschaltung des Parlaments – beklagt Adelheid Popp: Mich trifft das Schicksal, daß ich Jahr für Jahr bei der Budgetdebatte zum gleichen Thema reden muß, ohne darauf hinweisen zu können, daß sich irgendetwas zum Günstigeren verändert hätte – im Gegenteil, nicht günstiger, sondern ungünstiger sind die Zustände geworden.
Noch im selben Jahr legt Adelheid Popp ihre politischen Funktionen aus Altersgründen zurück; nur einen Tag nach ihrem 65. Geburtstag, am 12. Februar 1934, werden sämtliche sozialdemokratischen Organisationen verboten. Popp lebt fortan sehr zurückgezogen und stirbt am 7. März 1939 in Wien an einem Schlaganfall.
Die in den Jahren 1932/33 nach Plänen von Karl Ehn errichtete Wohnhausanlage der Gemeinde Wien in der Ottakringer Possingergasse 39–51 wird 1949 Adelheid-Popp-Hof benannt. 2011 erhält eine Verkehrsfläche im Bereich Erzherzog-Karl-Straße / Stadlauer Straße den Namen Adelheid-Popp-Gasse. Im selben Jahr wird die Parkanlage in der Geblergasse in Hernals in Adelheid-Pop-Park benannt. Einen Adelheid-Popp-Weg gibt es seit 1992 auch in Linz.
Werke (Auswahl)
Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt, 1909; Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein, 1911; Erinnerungen. Aus meinen Kindheits- und Mädchenjahren, 1915; Der Weg zur Höhe. Die sozialdemokratische Frauenbewegung Österreichs – ihr Aufbau, ihre Entwicklung und ihr Aufstieg, 1929.
Literatur
Gabriella Hauch: Frauen bewegen Politik. Österreich 1848−1938, 2009; Roswita Reiter: Adelheid Popp. Biografie einer bewegenden Sozialdemokratin, 2010; Sibylle Hamann (Hrsg.): Adelheid Popp. Jugend einer Arbeiterin, 2019; Gernot Trausmuth: „Ich fürchte niemanden“. Adelheid Popp und der Kampf für das Frauenwahlrecht, 2019.
Links des Österreichischen Parlaments
Adelheid Popp - ein Porträt
Adelheid Popp - Wegbereiterin der Frauenbewegung
Adelheid Popp als Parlamentarierin