Nach dem Ersten Weltkrieg sind nicht nur Lebensmittel knapp, auch der Wohnraum fehlt. Die Menschen nehmen ihr Schicksal in die Hand, errichten – zunächst illegale – Siedlungen und versorgen sich selbst: durch Obst- und Gemüseanbau und die Haltung von Kleintieren.
Bald formieren sich Selbsthilfeorganisationen, die von der Gemeinde Wien unterstützt werden. Die Siedlung als Hilfe gegen Nahrungs- und Wohnungsnot, als bewußtes Kulturideal, wurde so zu einer großen, sozialen Massenbewegung.
Siedeln, ein vordem in Österreich kaum gehörtes und gebrauchtes Wort […], wurde plötzlich ein Schlagwort, der laute Ruf von Tausenden, die stille Hoffnung von Hunderttausenden.
Baumaterial ist in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg allerdings nur schwer zu bekommen. Um die Siedlungs-, Wohn- und Kleingartenvereine mit Baustoffen zu versorgen, wird 1921 die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt – Gesiba – gegründet.
Die Republik Österreich, die Gemeinde Wien und die im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen zusammengeschlossenen Genossenschaften und Vereine sind zu jeweils einem Drittel am Gründungskapital beteiligt.
Zu den Aufgaben der Gesiba gehören außerdem die Vermittlung von Bauland, die Planung der Siedlungen und die Bauaufsicht, die Beschaffung und Verleihung von Maschinen und Gerätschaften sowie die Vermittlung von Krediten.
Das Unternehmen beginnt bescheiden in zwei Büroräumen, deren größter Vorteil darin besteht, dass Eisen- und Metallwaren, Glas und andere in der Zeit des Warenmangels hochgeschätzte Güter durch die ebenerdigen Fenster des Direktionszimmers auf schiefen Bretterebenen hereinbefördert und – glücklich verstaut – von der Geschäftsleitung persönlich bewacht werden konnten.
Doch man expandiert rasch. 1923 beteiligt sich die Gesiba an den Wiener Holzwerken, einer modernen Bau- und Möbeltischlerei, die in fünf großen Fabrikhallen rund 300 Arbeiter beschäftigt, und die nun auf die Serienproduktion von „normalisierten“ Türen, Fenstern und Treppen umstellt – denn normierte Bauteile reduzieren Baukosten.
Mitte der 1920er Jahre erwirbt die Gesiba ein eigenes Sägewerk in Marbach a./d. Donau, steigt damit ins „Parkettbrettlgeschäft“ ein und beliefert nicht nur die Zweite Zentralberufsschule, sondern auch den Reumannhof und andere Gemeindebauten mit Fußböden.
In erster Linie soll die Gesiba jedoch „Stütze und Werkzeug“ der Siedlungsgenossenschaften und der Kleingartenvereine sein, wenn es um die Beschaffung von Baustoffen und die Gewährung von Krediten geht. Denn die meisten Siedlungsgenossenschaften kämpfen ums Überleben. Zwar können sie auf die Arbeitsleistung ihrer Mitglieder zählen, oft fehlen ihnen jedoch die finanziellen Mittel, um die Bauten auch fertigzustellen. Hier springt die Gesiba ein, schießt Geld und Baustoffe vor.
Sie sollten auch für die minderbemittelten Schichten der Bevölkerung das Kulturideal des Einfamilienhauses verwirklichen.
In sechs Siedlungsgebieten – den Siedlungen Süd-Ost, Lockerwiese, Am Flötzersteig, Am Heuberg, Am Freihof und Neustraßäcker – werden innerhalb weniger Jahre 1.765 Einfamilienhäuser mit Gärten sowie 45 Mehrfamilienhäuser mit 423 Wohnungen samt Gemeinschaftsanlagen errichtet.
Das durchschnittliche Siedlungshaus umfasst zwei Zimmer und eine Kammer; mit Vorraum, Küche, Spüle mit Bad, Keller und Dachboden verfügt es über eine Gesamtnutzfläche von 55 m2.
1923 startet die „Kernhausaktion“ der Gemeinde Wien, bei der sich übrigens die junge Architektin Margarete Lihotzky, Angestellte im Baubüro des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen, profilieren kann. Anfang September wird das Projekt – auch „wachsendes Haus“ genannt – im Rahmen einer Kleingarten- Siedlungs- und Wohnbauausstellung präsentiert: Auf dem großen Rathausplatz hat die Gesiba fünf Siedlungshäuser errichtet, die verschiedene Bauweisen zeigen und auch dem Laien den Grundgedanken der Kernhausaktion der Wiener Stadtverwaltung veranschaulichen.
Finanziert wird die Aktion durch Kredite der Gemeinde Wien, mit der Vergabe ist die Gesiba betraut. Die Siedler müssen ein Viertel der Baukosten selbst aufbringen und den Kredit mit bloß 5 Prozent Zinsen binnen fünf Jahren zurückzahlen. Diese Kernhäuser enthalten ganz kleine Wohnungen, sind aber so angelegt, daß sie später ohne Schwierigkeiten ausbaufähig sind, schreibt Robert Danneberg. So wird jemand, der nur ein kleines Kapital besitzt, in die Lage versetzt, ein Häuschen zu erstehen, das später vergrößert werden kann. Bis 1925 werden auf diese Weise knapp 200 Einfamilienhäuser errichtet.
Mitte der 1920er Jahre – die Gemeinde Wien hat gerade ihr erstes Wohnbauprogramm in Angriff genommen – beginnt sich die Lage am Wohnungsmarkt zu entspannen.
Die Gesiba lässt die „Kernhausaktion“ deshalb auslaufen und ersetzt sie durch die „Heimbauhilfe“: Geeignete größere Grundflächen werden zu diesem Zwecke parzelliert, mit Straßen, elektrischem Licht, Gas und Kanalisation versehen und nach einheitlicher Planung mit Einfamilienhäusern einzeln oder in Gruppen verbaut.
Neben den erforderlichen Geldmitteln stellt die Gemeinde auch geeignete Grundflächen zur Verfügung. Die erste dieser neu errichteten Gartenstädte ist die Eigenheimkolonie „Am Wasserturm“ in Favoriten.
1925 kommen zunächst zehn Häuser zur Ausführung, 1926 folgen 30, 1927 weitere 50 und 1928 schließlich 100 Objekte, insgesamt 190 Wohneinheiten.
Pluspunkte sind die gute Verkehrsanbindung – geworben wird mit dem Slogan 25 Minuten Straßenbahnentfernung von der Oper –, aber auch die gediegene Ausführung und in ihrer strengen Sachlichkeit schöne Architektur von Franz Schuster und Franz Schacherl. Die Anordnung der Wohneinheiten in Gruppen unterschiedlicher Größe würde außerdem die bedrückend empfundene Einförmigkeit langer Reihen vermeiden.
Die durchschnittliche Grundstücksgröße beträgt 200 m2, die Wohnflächen bewegen sich zwischen 45 und 80 m2, je nach Verbauungsgrad bleiben also 120 bis etwa 160 m2 für einen Vor- und Hausgarten.
Alle Zuleitungen – Hochquellenwasser, Gas, elektrisches Licht, Kanalisation – sind vorhanden; Wasserausläufe in der Küche (Wandbrunnen), Waschküche, in den Badezimmern sowie im Garten, Gasanschlüsse in den Küchen und Badezimmern, elektrische Lichtleitungen in allen Räumen des Hauses, im Treppenraum mit Wechselschaltung. Die sanitäre Installation bilden Patentspülklosette.
Die Häuser werden bezugsfertig übergeben, lediglich Herd, Ofen und Badezimmereinrichtung sind nicht im Preis inbegriffen. Beim Bezug des Hauses müssen 20 Prozent des Kaufpreises erlegt werden. Der Rest des Darlehens ist mit nur 4 Prozent zu verzinsen und in 15 gleichen Jahresraten zurückzuzahlen.
Ebenfalls im Rahmen der „Heimbauhilfe“ errichtet die Gesiba in den Jahren 1929 bis 1932 in Hietzing eine Siedlung mit 70 komplett eingerichteten Musterhäusern, die im Rahmen einer Werkbund-Ausstellung präsentiert werden. Die Häuser sollen höchsten Wohnkomfort auf kleinstem Raum bieten und seriell herstellbar sein.
Leiter des Projekts ist Josef Frank, die einzelnen Objekte stammen von 32 renommierten ArchitektInnen, darunter Adolf Loos, Josef Hoffmann, Margarete Schütte-Lihotzky, Ernst Lichtblau, Clemens Holzmeister, Anton Brenner, Oskar Strnad und Josef Frank selbst.
Die Mustersiedlung ist im Sommer 1932 mehrere Wochen lang für das Publikum geöffnet. Die Reaktionen der Presse und der über 100.000 Besucher fallen überwiegend positiv aus. Vorbildwirkung kann die Werkbundsiedlung allerdings nicht erzielen. Der Höhepunkt der Siedlerbewegung ist längst überschritten und aufgrund der Wirtschaftskrise bleiben die meisten Häuser unverkäuflich; 1939 werden sie in Gemeindeverwaltung übernommen.
Trotz dieser Erfolge geht das Rote Wien bald ganz andere Wege. Als die Stadt am 1. Januar 1922 ein selbstständiges Bundesland wird, erhöht sich der Gestaltungsspielraum der sozialdemokratischen Verwaltung – Stichwort Steuerhoheit – zwar deutlich, gleichzeitig aber wird allen Beteiligten bewusst, dass Grund und Boden fortan begrenzt sind. Damit ist das Schicksal der Siedlerbewegung eigentlich besiegelt.
Bereits in der Gemeinderatssitzung vom 15. Februar 1924 erklärt Stadtrat Franz Siegel die Abkehr vom Siedlungsgedanken damit, dass der Verwirklichung dieses Traums unüberwindliche Hindernisse im Weg standen. Wir haben die Absicht, in den nächsten fünf Jahren 25.000 Wohneinheiten zu bauen. Müssten wir diese 25.000 Einheiten in Siedlungshäusern unterbringen, würden sie […] eine Fläche einnehmen, die jener der Bezirke XVI, XVII, XVIII, XIX und XXI zusammengenommen entspricht (zitiert nach Eve Blau).
Ein Paradigmenwechsel – weg vom kleinbürgerlichen Siedlungshäuschen, hin zum proletarischen Volkswohnhaus. Oder, wie es Bürgermeister Karl Seitz ausdrückt: Jetzt kommt die neue Bauperiode, in der wir nicht mehr kleine Einzelhäuser bauen mit kleinen Höfen, sondern große Anlagen mit Gemeinschaftswohnungen, in denen Menschen in Massen zusammen leben […]. Wir wollen unsere Jugend nicht zu Individualisten, zu Einzelgängern erziehen, sie sollen in Geselligkeit aufwachsen und zu Gemeinschaftsmenschen erzogen werden.
In der Zweiten Republik errichtet die Gesiba unter anderem die Per-Albin-Hansson-Siedlung und den Wohnpark Alt-Erlaa. Sie befindet sich heute zu 99,97 Prozent im Eigentum der Stadt Wien, ist in die Wien Holding eingegliedert und verwaltet über 20.000 Wohnungen.
Literatur
Die Heimbauhilfe der Gemeinde Wien, o.D.; Zehn Jahre neues Wien, Robert Danneberg, 1929; 10 Jahre Gesiba, 1932; Das Wohnungswesen der Stadt Wien, 1932; Rotes Wien. Architektur 1919-1934, Eve Blau, 2014.