Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Die „Soldatenspielereien des Schutzbundes“
0102 | 2. MÄRZ 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Die „Soldaten­spielereien des Schutzbundes“

Anfang März 1923 wird der Republikanische Schutzbund als bewaffnete Arbeiterwehr gegründet. Die erste Vorstands­sitzung findet am 7. März 1923 statt, zum Obmann wird Julius Deutsch gewählt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung der Habsburgermonarchie im Herbst 1918 formiert sich zunächst eine „Volkswehr“ – als sozialdemo­kratisches Gegengewicht zu den rechten „Bürgerwehren“. Dieses von Julius Deutsch, Unterstaatssekretär im Staatsamt für Heereswesen, gegründete Freiwilligenheer ist die erste reguläre Armee des neuen Staates „Deutsch-Österreich“. Sie unterbindet mit Waffen­gewalt die kommunistischen Umsturz­versuche und bekämpft in Kärnten die vorrückenden Truppen des neuen SHS-Staates.

Ziel der Sozialdemokratie ist es, ein neues, republikanisches Heer zu errichten, basierend auf der allgemeinen Wehrpflicht und kontrolliert durch Vertreter des Volkes. Die alte Führungselite der k.u.k. Offiziere, die als „reaktionär“ gilt, soll von den Schaltstellen der Volkswehr ferngehalten werden. Die große Mehrheit dieser ehemaligen Offiziere ist der Sozialdemokratie tatsächlich feindlich gesinnt. Ausnahmen sind die adeligen Offiziere Theodor Körner und Alexander Eifler.

Der im September 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye führt alle diesbezüglichen Pläne jedoch ad absurdum. Er untersagt die allgemeine Wehrpflicht ebenso wie eine Milizstruktur. Das neue österreichische Bundesheer soll ein Freiwilligenheer sein, darf 30.000 Mann nicht überschreiten und über keine Luftstreitkräfte oder gepanzerte Fahrzeuge verfügen.

Der weithin sichtbare Ausdruck der außenparlamentarischen Machtposition der österreichischen Sozialdemokratie war der Republikanische Schutzbund. Er hatte die Aufgabe, die Sprengung des demokratischen Kampfbodens zu verhindern.Otto Leichter

Sozialdemokratisches Schattenheer

Nach dem frühen Ende der Großen Koalition auf Bundesebene im Jahr 1920 schwindet der Einfluss der Sozialdemokraten auf das vom neuen Heeresminister Carl Vaugoin „entpolitisierte“ Heer. Nach einigem Zögern beschließt die SDAP schließlich auf Drängen von Julius Deutsch, eine „Selbstschutz­formation des Proletariats“ zu gründen.

Der neue Republikanische Schutzbund soll dabei auch ein Gegengewicht zu den 1920 geschaffenen christlich-sozialen Heimwehren bilden, die auf die „Bürgerwehren“ und rechte Frontkämpferverbände zurückgehen. Vorbild ist der deutsche Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der sich der Verteidigung der Weimarer Verfassung und dem Schutz der republikanischen Parteien vor politisch motivierter Gewalt verschrieben hat.

Finanziert wird der Schutzbund durch Mitgliedsbeiträge und die sozial­demokratischen Freien Gewerkschaften sowie eine eigene „Wehrsteuer“. Eine wichtige Rekrutierungsbasis ist der sozialdemokratische Arbeiterbund für Sport und Körperkultur (ASKÖ), dem der Schutzbund kollektiv beitritt.

Die Leitung des paramilitärischen und straff organisierten Schutzbundes hat die Parteiführung der SDAP inne. Ausbildung und Uniformierung sind einheitlich organisiert, die Truppe ist in Kompanien, Bataillone und Regimenter gegliedert und mit Infanteriewaffen mehr schlecht als recht ausgerüstet. Die Waffen stammen größtenteils noch aus dem Ersten Weltkrieg.

Eine eindrucksvolle Streitmacht?

Über Struktur und Aufgaben des Schutzbundes besteht jedoch von Anfang an Uneinigkeit. Vor allem der pensionierte General Theodor Körner, bis 1930 einer der führenden Köpfe des Schutzbundes, ist skeptisch. Der Schutzbund sei für eine klassische militärische Auseinandersetzung mit der Staatsmacht nicht geeignet.

Versuchen wir uns zunächst einmal vorzustellen, daß der Schutzbund heute nicht bestände, schreibt Körner 1926. Dies wäre heute kaum auszudenken, weil es kein Fest und keine Feier der Arbeiterschaft mehr gibt, keine Demonstration, keinen Massenaufmarsch, keine politische oder gewerkschaftliche Versammlung und, was die Hauptsache ist, keinen Gewerkschaftskampf mehr, ohne daß der Schutzbund aufgerufen wird, und in irgendeiner Form mittun muß. Was aber tut der Schutzbund hiebei? Nur ordnen und schützen!

Der Schutzbund könne, so Körner, bestenfalls der bewaffnete Vorposten der zur Revolution bereiten Massen sein. Durchsetzen kann sich der Militärexperte mit dieser Ansicht nicht. 1934 wird sich zeigen, wie Recht er hatte.

Die Arbeiterbewegung will den Weg zum Sozialismus friedlich zurücklegen. Die Ordnerorganisation soll dazu beitragen, dass dieser Weg von den faschistischen Wegelagerern freigehalten wird. Julius Deutsch 

Aktiv ist der Schutzbund überall dort, wo die Sozialdemokratie politisch präsent ist – im Roten Wien, in den Industriestädten Wiener Neustadt, Linz, Wels und Steyr sowie im obersteirischen Industriegebiet; auch in vielen Schlüsselbetrieben, bei den Wiener Stadt­werken, der Eisenbahn und der Post, werden Schutzbundforma­tionen gegründet. Es entsteht eine scheinbar eindrucksvolle Streitmacht.

Anfangs ist der Schutzbund in erster Linie als Ordner- und Schutzorganisation für sozialdemo­kratische Veranstaltungen tätig, marschiert bei Massenveran­staltungen der Partei, bei Feiern, Angelobungen und Fahnenweihen auf; Schutzbund-Kapellen spielen im Rahmen der Eröffnungs­feierlichkeiten prestigeträchtiger Gemeindebauten.


Zunehmend sichert der Schutzbund aber auch Streiks gegen Störversuche, und schließlich steht die Verteidigung der Republik und ihrer Errungenschaften im Vordergrund.

Das rechte Lager rüstet auf

Bei der konservativen ländlichen Bevölkerung, aber auch beim städtischen Kleinbürgertum ruft die neue Arbeiterstreitmacht massive Ängste hervor. Gewalttätige Auseinander­setzungen zwischen den politischen Lagern gehören bald zum Alltag. Meist beginnt es mit der Störung einer gegnerischen Veranstaltung und endet nicht selten mit Mord und Totschlag. Die Staatsgewalt erweist sich dabei nicht nur als schwach, sondern auch als parteilich – für die SDAP ein Argument zum weiteren Ausbau ihrer paramilitärischen Schutzmacht.

Das neue Parteiprogramm der Sozialdemokratie, das Linzer Programm von 1926, aus der die politischen Gegner eine drohende „Diktatur des Proletariats“ herauslesen, vertieft die Kluft zwischen rechtskonservativer Bundesregierung und Sozialdemokratie und verschafft auch den Heimwehren starken Zulauf.

Diese werden von obersteirischen Großindustriellen, aber auch vom faschistischen Italien massiv zu einem Kampfinstrument der antidemokratischen Kräfte aufgerüstet. Die Sozialdemokratie wiegt sich derweil in der falschen Sicherheit ihrer vermeintlichen Stärke.

Die Partei ist machtlos

Bereits im Sommer 1927 steht das Land am Rande eines Bürgerkriegs. Nachdem am 30. Januar rechte Frontkämpfer im burgenländischen Schattendorf zwei Schutzbündler erschossen hatten, kommt es in Wien zum Prozess. Als alle drei „Arbeitermörder“ von den Geschworenen freigesprochen werden, ziehen am Morgen des 15. Juli die aufgebrachten Menschenmassen in die Innenstadt.

Schließlich gerät die Lage vollends außer Kontrolle: Der Justizpalast geht in Flammen auf, Polizeipräsident Schober lässt auf die Demonstranten schießen, die von den Ereignissen überrumpelte Parteiführung ist machtlos. Das Ergebnis sind 94 Tote und über 1.000 Verletzte.

Für beide Lager ist dieses Ereignis ein willkommener Vorwand zur weiteren Aufrüstung. Der Republikanische Schutzbund erreicht im Jahr 1928 mit etwa 80.000 Mitgliedern seine größte Stärke und demonstriert diese am 7. Oktober 1928 bei einem mächtigen Aufmarsch in Wiener Neustadt. Nur ein Großaufgebot von Polizei und Bundesheer kann an diesem Tag einen Zusammenstoß mit den Heimwehren verhindern.

Die Hotelzimmer der Stadt sind zur Gänze besetzt. In dem Hotel Zum Goldenen Hirschen hat die Heimwehr sämtliche Zimmer für ihre Offiziere belegt. Im Hotel Central auf dem Hauptplatze wurden zehn Zimmer für sozialdemokratische Abgeordnete reserviert. Es befinden sich auch bereits der Kommandant des Schutzbundes Dr. Deutsch, ferner Dr. Renner in Wiener Neustadt, schreibt dieNeue Freie Presse.

In der Illegalität

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verliert der Republikanische Schutzbund ab Beginn der 1930er Jahre zusehends an Schlagkraft. Viele seiner Mitglieder sind von Arbeitslosigkeit betroffen, die häufig wechselnden Regierungs­koalitionen zwischen den Christlich-Sozialen, dem rechten Landbund, den Deutschnationalen sowie den zunehmend faschistischen Heimwehren schaffen ein gesellschaftliches Klima der Instabilität.

Theodor Körner stemmt sich vergeblich gegen die weitere Radikalisierung von Teilen seiner Partei. In einer 50-seitigen Schrift kritisiert er die Strategie der Parteiführung und die „Soldatenspielereien des Schutzbundes“. Einen Kampf des Schutzbundes gegen die Staatsmacht betrachtet er als aussichtslos; 1930 zieht er sich von dessen Leitung zurück.

Als am 13. September 1931 die steirische Heimwehr unter Walter Pfrimer putscht, reagiert die Regierung nur zögerlich. Die folgenden Prozesse gegen die Putschisten geraten zur Farce und enden mit den Freisprüchen der angeklagten Heimwehrführer.

Mit dem Regierungsantritt von Engelbert Dollfuß am 20. Mai 1932 verschärft sich die ohnedies angespannte innenpolitische Situation abermals. Aufmarsch- und Versammlungs­verbote hindern den Schutzbund immer häufiger daran, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Der neue Sicherheitsminister Emil Fey aus den Reihen der Heimwehr geht auch gegen die SDAP und ihre Medien energisch vor.

Nach der staatsstreichartigen Auflösung des Parlaments am 4. März 1933 regiert Dollfuß mithilfe des „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes“ von 1917 autoritär.

Am 31. März 1933, zehn Jahre nach seiner Gründung, wird der Republikanische Schutzbund formell aufgelöst. Die Organisation besteht zwar in der Illegalität weiter, ist aber durch ständige Waffensuchaktionen und die sukzessiven Verhaftungen führender Funktionäre derart  geschwächt, dass sie im Februar 1934 auf verlorenem Posten stehen wird.

Opfer verlorener Zeiten

Im Bürgerkrieg des Februar 1934 verlieren fast 200 Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes ihr Leben, etwa 300 weitere sind verwundet. Viele werden in den folgenden Tagen verhaftet und vor Gericht gestellt. Es ergehen dutzende Todesurteile, neun Sozialdemokraten – unter ihnen der schwerverletzte Karl Münichreiter, Georg Weissel aus Floridsdorf und Koloman Wallisch aus Kapfenberg – werden standrechtlich hingerichtet.

Etlichen Schutzbündlern gelingt die Flucht in die demokratische Tschechoslowakei oder in die Sowjetunion, wo viele von ihnen dem Terror Stalins zum Opfer fallen werden. Zahlreiche frühere Mitglieder des Schutzbundes, unter ihnen auch Julius Deutsch, kämpfen von 1936 bis 1939 in den Reihen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg einen weiteren aussichtslosen Kampf.

Literatur
Julius Deutsch: Alexander Eifler, ein Soldat der Freiheit, 1947; Finbarr MacLoughlin: Der republikanische Schutzbund und gewalttätige politische Auseinandersetzungen in Österreich: 1923–1934, 1990; Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, 1974; Erwin Tramer, Der Republikanische Schutzbund. Seine Bedeutung in der politischen Entwicklung der Ersten Österreichischen Republik, 1969.

PAZIFIST UND GENERAL

Über Julius Deutsch, Leiter des Schutzbundes

Fuss ...