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Aktuelle Seite: Frau Dr. Margarete Hilferding, X., Favoritenstraße 67
0082 | 23. SEPTEMBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Frau Dr. Margarete Hilferding, X., Favoritenstraße 67

Am 23. September 1942 stirbt die Ärztin und Individualpsychologin Margarete Hilferding auf dem Transport vom Ghetto Theresienstadt in eines der deutschen Vernichtungslager.

1871 in Wien als Margarete Hönigsberg in einer großbürgerlich-jüdischen Familie geboren, absolviert sie eine Lehramts­ausbildung, erhält in der Ära Lueger jedoch keine adäquate Anstellung. In der Folge studiert sie – zunächst als außerordentliche Hörerin – an der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität und wechselt schließlich, als dies im Jahr 1900 möglich wird, zum Medizinstudium. Da ihr die bereits absolvierten Lehrveranstaltungen angerechnet werden, kann sie 1903 an der Medizinischen Fakultät promovieren.

Neben ihrem Studium schreibt sie Gedichte, Erzählungen und politische Artikel für Zeitungen, ist in der Frauenbewegung und in der Vereinigung Sozialistischer Studenten aktiv. 1904 heiratet Margarete Hönigsberg den marxistischen Theoretiker und sozialdemokratischen Politiker Rudolf Hilferding, lebt mit diesem einige Jahre lang in Berlin, wo sie als Ärztin allerdings nicht arbeiten darf, und kehrt 1909 mit ihren beiden Söhnen nach Wien zurück. Die Ehe wird 1922 geschieden werden.

Frau Dr. Margarete Hilferding, X, Favoritenstraße 67. Ordination: Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag von ½ 1 bis ½ 2 Uhr; Montag und Donnerstag von ½ 5 bis ½ 6 Uhr.

1910 ist Margarete Hilferding als erste Frau für einige Monate hindurch Mitglied der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ von Sigmund Freud. Lange hält sie es in der elitären Männerrunde jedoch nicht aus.

Im Proletarierbezirk

Margarete Hilferding zieht es in den „Proletarierbezirk“ Favoriten, wo sie als Frauenärztin praktiziert und ab 1922 auch als Schulärztin tätig ist. Daneben hält sie Vorträge über „Die Hygiene der Frau“ oder „Das Geschlechtsleben und seine Gefahren. Nur für Frauen.“ Ab 1927 engagiert sie sich politisch als Bezirksrätin und Vorsitzende des Arbeiter-Abstinentenbundes.

Wenn nach 20 bis 25 Schwangerschaften nur 3 bis 4 Kinder bis zur eigenen Fortpflanzungsfähigkeit aufgezogen werden, dann sind alle übrigen Schwangerschaften vergebens. Sie sind ein Raubbau an der Frau, ein Raubbau an Körper und Seele.Arbeiterinnen-Zeitung, 1922

Als Gynäkologin tritt sie entschieden für Geburtenkontrolle durch Empfängnisverhütung ein, als erste weibliche Individual­psychologin wird sie im Roten Wien Leiterin einer im Rahmen der Wiener Schulreform errichteten individualpsychologischen Erziehungsberatungsstelle. 1926 erscheint ihr Buch „Geburten­regelung“, in dem sie die Entkriminalisierung der Abtreibung fordert. 1930 ist sie Vortragende auf dem 4. Kongress der Weltliga für Sexualreform in Wien.

Im Februar 1934 wird Margarete Hilferding in der Wohnung der Familie Lazarsfeld verhaftet, das Dollfuss-Regime kündigt ihren Krankenkassenvertrag, auch als Schulärztin darf sie nicht mehr praktizieren.

Die Abreise

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nimmt Margarete Hilferding die Gelegenheit zur Ausreise nach Frankreich nicht wahr. Sie wird ihrer Wohnung verwiesen, muss mehrmals den Wohnort wechseln und arbeitet noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im privaten Wiener Rothschildspital, wo sie auf den 34 Jahre jüngeren Viktor Frankl trifft. 

Ab Ende März ist Hilferding im überfüllten jüdischen Altersheim in der Seegasse untergebracht. Von hier schreibt sie ihren beiden Söhnen Karl und Peter folgende Zeilen:

Nun scheint es doch ernst zu werden mit meiner Abreise, allerdings nicht näher zu Euch und nicht unter erfreulichen Bedingungen. Daß wir uns wahrscheinlichen nie wieder sehen werden, damit habe ich ja gerechnet; daß wir auch nichts mehr von einander hören werden, nicht einmal wissen, wo wir sind, das habe ich erwarten müssen, aber es war doch noch in unbestimmter Ferne. […] ich habe bis jetzt immer den Kopf oben gehalten. Ob das noch weiter möglich sein wird? Jedenfalls habe ich die Absicht, aber es scheint sehr schwer zu sein. […] Und nun ist heute mein 71. Geburtstag; ich will ja nicht sentimental werden, aber eigentlich ist es für mich ein trauriger Tag. Man darf sich auch nicht beklagen, wenn man nun bald aus dem Leben gehen muss, es ist an der Zeit. […] Das einzige Glück ist, daß Ihr draußen seid. Mutter  

Am 28. Juni 1942, eine Woche nach diesem Abschiedsbrief, wird Margarete Hilferding mit hunderten anderen Häftlingen in überfüllten Waggons nach Theresienstadt deportiert. Im September desselben Jahres stirbt sie während der Überstellung in das Vernichtungs­lager Treblinka nordöstlich von Warschau oder, anderen Quellen zufolge, nach Maly Trostinec bei Minsk.

Nur einer überlebt

Ihr Sohn Karl und sein Vater Rudolf Hilferding werden unabhängig voneinander in Frankreich verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. Rudolf wird am 13. Februar 1941 im Pariser Gefängnis La Santé zu Tode gefoltert, Karl trotz seiner Konversion zum katholischen Glauben nach Auschwitz deportiert und am 2. Dezember 1942 im Nebenlager Groß Strehlitz ermordet. Von Rudolfs Tod wird Margarethe Hilferding wahrscheinlich noch erfahren haben. Als ehemaliger deutscher Finanzminister gehörte er zu den von den Nationalsozialisten Gejagten, sein Tod ging durch die internationale Presse. Ihr zweiter Sohn Peter schafft es mit Hilfe Karl Poppers nach Neuseeland.

Im Jahr 2003 wird in Floridsdorf der Hilferdingweg nach Margarete und Rudolf Hilferding und ihrem gemeinsamen Sohn Karlbenannt. Im Frühjahr 2006 wird die in den Jahren 1928/29 nach Plänen von Franz Zabza errichtete Wohnhausanlage in der Leebgasse 100 in Favoriten Margarethe-Hilferding-Hof benannt.

Literatur
Eveline List (2006): Mutterliebe und Geburtenkontrolle – Zwischen Psychoanalyse und Sozialismus. Die Geschichte der Margarethe Hilferding-Hönigsberg.
Sonja Stipsits (2000): Margarete Hönigsberg. Aus dem Leben einer Pionierin. In: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (Hrsg.), Töchter des Hippokrates.
Van Swieten Blog der Universitätsbibliothek

EIN WIENER WIRD BERLINER – RUDOLF HILFERDING

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