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Aktuelle Seite: „Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!“
0035 | 5. SEPTEMBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!“


Otto Bauer wirdam 5. September 1881 als Sohn einer wohl­habenden Wiener Textil­fabrikantenfamilie geboren. Schon als Jugendlicher begeistert er sich für die Schriften von Karl Marx und hält Vorträge im Kreise seiner Mitschüler. Während des Studiums der Rechtswissen­schaften schließt sich Bauer der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten und dem Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein an, wo er unter anderen Karl RennerFriedrich AdlerRudolf Hilferding und Max Adler kennenlernt.

Jenes frivole Spiel, das man in Österreich nationale Politik nennt... 

1907, mit erst 26 Jahren, legt er das über 500 Seiten starke Werk „Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie“ vor, einen Versuch, die drängendste Frage des Vielvölkerstaates konstruktiv zu lösen. Wie ist es zu erklären, dass selbst sozialdemokratische Arbeiter empfänglich für das Gift des Nationalismus sind? Im selben Jahr wird Bauer auf Wunsch des Parteivorsitzenden Victor Adler Sekretär des Klubs der sozial­demokratischen Abgeordneten im Reichsrat, wo die Sozialdemokratie nunmehr die zweitstärkste Fraktion stellt.

Im Ersten Weltkrieg gerät Bauer in russische Kriegsgefangenschaft. Mit Ausbruch der russischen Revolution wird er als „Austauschgefangener“ freigelassen und avanciert zum engsten Mitarbeiter von Victor Adler. Nach dessen plötzlichem Tod am 11. November 1918 wird Bauer mit der provisorischen Leitung des Außenamtes betraut und betreibt mit Nachdruck den Anschluss „Deutschösterreichs“ an die sozialdemokratisch geführte Weimarer Republik. Dieses Vorhaben scheitert nicht zuletzt am Veto der Franzosen. Otto Bauer bleibt bis Oktober 1919 als Staatssekretär für Sozialisierung Mitglied der Regierung. Seine Bemühungen, wichtige Bereiche der Wirtschaft zu verstaatlichen, zerbrechen am Widerstand der bürgerlichen Kräfte.

Der Workoholic

Das Ausscheiden der Sozial­demokraten aus der Bundes­regierung im Oktober 1920 führt die Partei für viele Jahre ins politische Abseits und wird von Bauers Widersacher Karl Renner später scharf kritisiert: So war das Experiment glücklich gelungen, die Republik, die in erster Linie von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft als demokratische Republik gegründet worden war, als reine „Bourgeois­republik“ zu deklarieren… Karl Renner, Nachgelassene Werke, Bd. 2

Der schreib- und redegewandte Otto Bauer wird zum wichtigsten Sprecher der sozialdemokratischen Opposition im Parlament, ein wortgewaltiger Rhetoriker, blendender Theoretiker und ein „Workoholic“, der selbst den Vorsitzenden der Partei Karl Seitz bald überstrahlt.

Bauer schrieb ungefähr eineinhalb Stunden an seinem Artikel, meist mit der Hand, manchmal diktierte er ein druckreifes Manuskript. Dann öffnete er die Tür seines Zimmers, aus dem die Rauchschwaden von vielleicht zwanzig Zigaretten quollen, die er inzwischen geraucht hatte. Nun begann für ihn sozusagen das gesellschaftliche Leben. Er ging zu Austerlitz in dessen Zimmer und sprach mit ihm über Politik, Literatur, über interne Parteifragen und anderes […] Gegen zwölf oder halb ein Uhr nachts erhielt er die Korrekturen seines Artikels […] Danach ließ er sich die deutschen, französischen und englischen Blätter bringen, die er bis etwa zwei Uhr las. Dann war für ihn der Arbeitstag beendet. Um acht Uhr früh begann er wieder. Otto Leichter

Der Sozialismus ruht notwendig auf der Demokratie.

Gemeinsam mit Max Adler, Rudolf Hilferding und anderen gilt Otto Bauer als der Schöpfer des Austromarxismus. „Mit Marx über Marx hinaus“ zu gehen, Marx mit Marx zu kritisieren und weiter zu entwickeln, das ist sein Ehrgeiz. Bauers wichtigste These, vor allem auf internationaler Ebene, ist seine Idee vom „Integralen Sozialismus“, ein Versuch, die europäische Sozialdemokratie mit dem Sowjetkommunismus zu versöhnen – durch die Demokratisierung der Sowjetunion und die Radikali­sierung der Sozialdemokratie im Kampf gegen den Faschismus.

Der Integrale Sozialismus hat dem revolutionären Sozialismus das große Erbe der Kämpfe um die Demokratie [...] zu übermitteln. Er hat dem reformistischen Sozialismus das große Erbe der proletarischen Revolutionen zu vermitteln: die Erkenntnis, daß [...] nur die proletarische Revolution [...] die Menschheit [...] befreien könne.

Das 1926 beschlossene Linzer Programm der SDAP gilt als eines der wichtigsten Dokumente des Austromarxismus: Wo die Arbeiterschaft gespalten ist, dort verkörpert die eine Arbeiterpartei die nüchterne Realpolitik des Tages, die andre [sic!] den revolutionären Willen zum letzten Ziel. [...] Die Synthese beider – das ist das Linzer Programm, das ist, wenn man es so nennen will, der Austromarxismus“.

Die soziale Revolution, so Otto Bauer, könne allerdings erst dann umgesetzt werden, wenn die Arbeiterpartei auf demokratischem Wege, also friedlich, an die Macht gekommen sei. Erst dann werde durch sozialistische Bewusstseins­bildung ein „neuer Mensch“ entstehen.

Revolutionäre Kleinarbeit

Nach Otto Bauers Überzeugung sei der Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschafts­ordnung unausweichlich und müsse deshalb nicht speziell gefördert werden. Geduld sei angebracht. Im Lichte der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Österreichs müsse man die „objektiven Verhältnisse“ nur „reifen lassen“. Diese von vielen kritisierte abwartende Haltung, die wahrscheinlich Bauers persönlichem Naturell entsprach, sei als angemessene „revolutionäre Pause“ zu sehen.

Das Kleine, das Unmerkliche, das wir Kleinarbeit nennen, das ist das wahre Revolutionäre.Otto Bauer, 1928

Die Tatsache, dass Bauer, allerdings mit Zustimmung von Seitz und Renner, die Koalitionsangebote der Christlichsozialen zu Beginn der 1930er Jahre ablehnt, weil jede Mitverantwortung der Sozial­demokratie den unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems bloß verzögern würde, wird vom späteren Bundeskanzler Bruno Kreisky rückblickend als Fehler gesehen: Meiner Meinung nach war das die letzte Chance zur Rettung der österreichischen Demokratie.

Eine Politik des Abwartens

Spätestens nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 wirft ihm auch der linke Flügel der Partei unangemessene Zögerlichkeit gegenüber dem vordringenden Faschismus vor. Die „Erklärung der Linken“ am Parteitag im Oktober 1933 kann als scharfe Abrechnung mit Bauers Politik gesehen werden: Die Politik der Parteiführung seit dem März dieses Jahres ist eine Politik des Abwartens, eine Taktik, die sich alle Termine, alle Kampfsituationen vom Gegner vorschreiben läßt. Diese Taktik ist falsch. [...] Die Taktik, die sagt: Heute nicht, morgen nicht, aber wenn die Regierung das und das tun wird, werden wir den Generalstreik proklamieren, ist falsch.

Der Nationalratsabgeordnete Wilhelm Ellenbogen beschreibt Otto Bauer als blendenden Theoretiker und großen Idealisten, dem allerdings eines fehlte, jene absolute, instinktive Treffsicherheit im politischen Urteil; jener ‚Riecher‘, der das echte politische Genie vom Dilettanten unterscheidet und ihn sozusagen blind das Richtige treffen läßt, und für das es keine Regel, keine Theorie und kein Lehrbuch gibt.

Eben kein Lenin

Tatsächlich bleibt Otto Bauer als Politiker in den entscheidenden Momenten zögerlich und unbestimmt. Andererseits hat kaum jemand die strategischen Fehler der österreichischen Sozialdemokratie klarer analysiert, als er selbst. Bauer, der demokratische Sozialist und klassische Marxist, ist eben kein Lenin, niemals bereit, einer „Revolution“ Menschenleben zu opfern.

Nach der Niederlage des Republikanischen Schutzbundes im Februar 1934 flieht Otto Bauer in die Tschechoslowakei, wo er in Brünn das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) aufbaut und die illegale Arbeiter-Zeitung nahezu im Alleingang schreibt.

Im März 1938 trifft Bauer in Brüssel mit Friedrich Adler und dem Vorsitzenden der Revolutionären Sozialisten (RS), Joseph Buttinger, zusammen. Man einigt sich auf die Vereinigung des ALÖS und der RS zur Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES).

... mit der toten Ikone, die man an Feiertagen beschwor, im Alltag jedoch verleugnete, ließ es sich für die Nachkriegs-SPÖ gut leben.Norbert Leser, 2000

Am 4. Juli 1938 erliegt Otto Bauer in Paris einem Herzinfarkt. Sein Leichnam wird am Père Lachaise-Friedhof beim Denkmal für die Kämpfer der Pariser Kommune von 1871 beigesetzt. 1948 wird seine Urne nach Wien gebracht und in einem von Hubert Gessner geschaffenen Ehrengrab beigesetzt, in dem zu diesem Zeitpunkt bereits Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer (1918) sowie Bauers Frau Helene (1942) bestattet sind.

In seinem Artikel zu Bauers 60. Todestag gibt Wolfang Maderthaner eine Aussage des Chefredakteurs der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak wieder. Auf die Frage, ob die Geschichte der Republik nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Richtung genommen hätte, wäre Otto Bauer 1945 noch am Leben gewesen, habe dieser sinngemäß gesagt: Nein – aber verstanden hätten wir sie besser.

Literatur
Ernst Hanisch, Der große Illusionist: Otto Bauer (1881–1938), 2011
Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, 1981
Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten, 1990
Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph, 1970
Norbert Leser und Richard Berczeller, Als Zaungäste der Politik, 1977
Norbert Leser, „... auf halben Wegen und zu halber Tat... “, 2000
Wolfgang Maderthaner, Otto Bauer zum 60.Todestag, 1998

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