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0044 | 20. OKTOBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Mit der Maschinerie verwachsen

Hubert Gessner. Der Industriearchitekt

Ein Mährer, selbstverständlich: wie fast alle Künstler, die noch im alten Österreich aufkamen.Max Ermers

Hubert Gessner wird am 20. Oktober 1871 im ostmährischen Wallachisch-Klobouk geboren. Im Laufe seines Lebens errichtet er einige wichtige Bauten für die Sozialdemokratie, wie etwa das Arbeiterheim Favoriten oder das Vorwärts-Haus auf der Rechten Wienzeile. Für das Rote Wien plant er fünf große Wohnhaus­anlagen, darunter den Reumannhof und den Lassallehof. Seine Verdienste für die Arbeiterbewegung gehen jedoch weit darüber hinaus.

Hubert Gessner ist ein Baukünstler ganz eigener Art: nicht modern, nicht antikisch, nicht antimodern, nicht antiantikisch. Sachlich, nüchtern, solide und doch nicht ohne Großzügigkeit. Vor allem einer der wenigen unserer einheimischen Architekten, der mit dem Industriebau durch und durch vertraut ist, schreibt der Publizist Max Ermers anlässlich seines 60. Geburtstages.

Bald spezialisiert er sich. Wird der erste Fachmann der Großbäckerei­bauten. Gewinnt rasch Weltruf oder zumindest Europaruf in dieser komplizierten Materie: baut Riesenanlagen für die Hammer­brotwerke in Schwechat und Floridsdorf, für die Spatenbrotwerke in Linz, für Reichenberg, Salzburg, Prag… Er verwächst mit der Maschinerie. Große Konsumgenossen­schaftsanlagen folgen, Molkereien, Akkumulatorenfabriken, Walzmühlen.

Alles beginnt in „Klein-Wien“

Seinen Durchbruch schafft der erst 28-jährige Architekt, der 1894 in der Meisterklasse von Otto Wagner an der Akademie der bildenden Künste aufgenommen wird, mit dem Wettbewerb für das neue Sparkassengebäude in Czernowitz. Der am äußersten Rand der Monarchie gelegene, heute zur Ukraine gehörende Hauptort der Bukowina bezeichnet sich damals selbst als „Klein-Wien“.

Die „dritte Säule“ der Sozialdemokratie

Nach der Fertigstellung des noch ganz dem Jugendstil verpflichteten Sparkassengebäudes gewinnt Gessner im Jahr 1900 auch den Wettbewerb für das Arbeiterheim Favoriten. Die Errichtung dieses für die Wiener Sozialdemokratie so identitätsstiftenden Gebäudes begründet die persönliche Freund­schaft Gessners mit Victor Adler und seine lebenslange Verbundenheit zur Arbeiterbewegung.

Mit dem Aufschwung der Konsumgenossenschaften eröffnen sich für den Architekten Gessner ganz neue Betätigungsfelder. Das 1905 eröffnete Lagerhaus in der Sonnwendgasse ist sein erster Industriebau und ein wichtiger Schritt zur Entwicklung einer neuen Formensprache für sozialdemokratische Nutzbauten.

Ein prächtiger Bau, wohldurchdacht in allen Einzelheiten…

Kein Konsum- oder Warenhaus wäre zu nennen, das sich an Trefflichkeit mit diesem Arbeiterkonsumverein vergleichen könnte. J.A. Lux, 1907

Im selben Jahr entsteht auch das Gebäude für den Ersten Nieder­österreichischen Arbeiter-Konsum-Verein in der Wolfganggasse in Meidling, das 1908 durch Zubauten erweitert wird. Wieder ist Hubert Gessner mit seinem Bruder Franz am Werk. Der Bau ist von innen heraus, den Zwecken entsprechend, errichtet und läßt doch nirgends bei aller Zweckmäßigkeit die Schönheitslinien vermissen, schwärmt die Arbeiter-Zeitung anlässlich der Eröffnung im November 1909.

Der Fabrikbau mit Warenspeicher verfügt über sieben Stockwerke, zwei Geschosse unter der Erde, fünf über ihr. Im Eisgenerator werden täglich 30 Meterzentner hygienisch einwandfreien Eises erzeugt, es gibt Kühlräume für die Lagerung von Milch, Butter, Fleisch und andere in gewöhnlicher Kellertemperatur leicht dem Verderben ausgesetzte Waren.

Ein „Riesenraum“ ist bis zur Decke mit Kartoffeln gefüllt, von denen er 35 Waggons zu fassen vermag. Ein eigener Gewürzkeller umschmeichelt uns, da wir ihn betreten, mit wohliger Wärme. […] Gewürze brauchen es luftig, dunkel und warm.

„Bierschnellfeuer­geschütz“ und Mineralwasserdepot

Zwei Druckknopfaufzüge von je tausend Kilogramm Tragkraft befördern die zur Röstung oder Vermahlung, Paketierung oder Füllung bestimmten Produkte von den Lagerräumen in die Stockwerke. In den übrigen Etagen befinden sich ein Kaffee- und Malzmagazin, eine Kaffeerösterei, ein chemisch-mikroskopisches Laboratorium, eine Weinkellerei, eine „Weiß- und Schwarzbäckerei“ sowie „vier riesige runde Mehlbehälter“, die sich über drei Stockwerke erstrecken. Jeder dieser Behälter faßt 180 Säcke Mehl oder 15.000 Kilo.

Die hauseigene Molkerei ist natürlich mit allen Apparaten zur Sahne- und Buttergewinnung und ebenso zur Käsebereitung ausgestattet. Ein „Bierschnellfeuer­geschütz“ ist in der Lage, 1.800 Flaschen Bier pro Stunde zu befüllen und im neuen Stallgebäude finden 60 Pferde Platz. Auch das Mineralwasserdepot des Vereines, das mit der fortschreitenden Abstinenzbewegung innerhalb der Arbeiterschaft gleichfalls wächst, wird hier genügend Raum finden. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter sind Garderoben und Duschen sowie eine eigene Hauswäscherei vorhanden.

Der Kampf gegen kapitalistische Brotspekulanten

Die Bäckerei des Ersten Nieder­österreichischen Arbeiter-Konsum-Vereins soll nicht Gessners einzige bleiben. Brot ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Hauptnahrungs­mittel der Arbeiterschaft, die überhöhten Brotpreise der „kapitalistischen“ Großbäckereien ein ständiges Ärgernis. Grund genug für die Sozialdemokratie und die ihr nahestehenden Konsumvereine, eigene Bäckereien zu errichten. Die Gründung der Hammerbrotwerke ist der Versuch, dem sogenannten „Brotwucher“ durch Eigen­produktion zu begegnen.

Von Schwechat aus werden wir Wien erobern!

Ab 1908 plant Gessner insgesamt 12 Großbäckereien und beweist auch hier, dass Zweckmäßigkeit und Schönheit einander auch beim Bau von Fabriken nicht ausschließen. Die erste Fabrik der Hammer­brotwerke muss jedoch nach heftigem Widerstand der Christlichsozialen, die den geplanten Bau in Favoriten mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, jenseits der Stadtgrenze, in Schwechat errichtet werden.

Anlässlich der Eröffnung am 20. Juni 1909 bringt die Arbeiter-Zeitung sogar einen vierseitigen Artikel aus der Feder von Max Winter über die Hammerbrotwerke: Diese sind im großen und ganzen fertig und die Tausende Proletarier, die heute den weiten Plan bevölkern und den Betrieb in allen seinen Teilen besichtigen werden, werden auch schon das erste Hammerbrot verkosten können, das unseren Genossen in der Ofenhalle hoffentlich recht gut gelingt.

Die Macht der Konsumenten

Die Genossen Bäcker waren am Werke, die Geschosse zu fabrizieren, mit denen von heute ab Wien bombardiert werden soll.

Zum Eröffnungsfest pilgern über 20.000 Wiener Arbeiterinnen und Arbeiter nach Schwechat. Unter den zahlreichen Ehrengästen befinden sich auch Victor Adler, Ferdinand Hanusch, Wilhelm Ellenbogen, Karl Renner, Karl Seitz und Max Winter. Genossen und Genossinnen, mahnt Victor Adler in seiner Ansprache, der Arbeiter ist nicht nur ein Schaffender, nicht nur ein Bürger im Staate, der Arbeiter hat auch ungeheure Macht, wenn er sie versteht zu werten, als ein Verzehrender, als der Konsument! […] Es hat lange gebraucht, bis diese Erkenntnis in Österreich durchgedrungen ist. Auch bei uns Sozialdemokraten.[…]Wie es in unserem Programm heißt, daß jeder Schritt dazu dienen soll, das Proletariat kampffähiger zu machen, so denken wir auch bei diesem Schritte nicht anders, und darum wird diese Brotkammer eine Waffenkammer sein des österreichischen Proletariats.

Im Ornament wird er von Jahr zu Jahr sparsamer

Die Hammerbrotwerke in Schwechat bleiben bis in die 1950er-Jahre in Betrieb, danach ist das Gebäude jahrelang dem Verfall preisgegeben. Aktuell ist ein Wohnbauprojekt in Planung, in dem das geschützte Industriedenkmal integriert werden soll.

Vollends aus dem Straßenbild verschwunden sind hingegen die Hammerbrotwerke in Floridsdorf, ein 1921 fertiggestellter Ausbau eines älteren Bäckereibetriebs. Hier errichtet Hubert Gessner einen futuristisch anmutenden, modernen Quader. Einziger Bauschmuck ist das in strenger Reihenfolge angebrachte Emblem der Hammerbrotwerke.

Dies entgeht auch Max Ermers nicht, der anlässlich Gessners 60. Geburtstag bestätigt: Fast alles, was Geßner geschaffen hat, ist meisterlich im Technischen. Er beherrscht Material und Konstruktion. Im Ornament wird er von Jahr zu Jahr sparsamer. […] Er denkt groß im Konzept. Seine Kollegen lieben ihn.

Literatur                                                                                                                           
Markus Kristan, Hubert Gessner. Architekt zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratie 1871–1943, 2011

HUBERT GESSNER

Sonderausstellung 2011/12

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